Das Gesetz des Irrsinns
Shylock-Film. Hier sieht Harlan einen staatspolitisch relevanten Zukunftsaspekt seiner Arbeit.
Wie bereits dem Herrn Reichsminister gegenüber betont, werde er sich schon gar nicht durch das Stück eines Engländers sein gutes Recht auf künstlerische Entfaltung nehmen lassen, vielmehr: Was im Stück bloß angelegt sei, müsse in aller Konsequenz herausgearbeitet werden, auch und vor allem über den Schlussakt hinaus. Denn es sei ganz selbstverständlich zu erwarten, dass Shylock nach der Abfuhr vor dem Gericht auf Rache sinne.
Nicht alle Etappen der Racheplanung müssten in diesem Schreiben skizziert werden, gleich das Resultat: Durch seinen Schwiegersohn lässt Shylock das Kind des »Kaufmanns von Venedig« entführen, dies mit klarer Mordabsicht. Er, Harlan, habe dazu auf dem sog. Storyboard eine Schlüsselszene entworfen: Shylock hält am ausgestreckten Arm den etwa Zweijährigen am Schopf, setzt eine altertümliche, bedrohlich große Pistole an dessen Schläfe, das wehrlose Kind wird ausgeknipst.
Und uns geht ein Licht auf. Walter.
Lieber Uwe, ich muss diesmal um rasche Vermittlung des Rapports an RM bitten.
Vergangene Nacht ist unsere Zentrale der RAF zum Opfer gefallen. Das Forschungsamt ist faktisch zerstört. RM als Gründer unseres Nachrichtendienstes dürfte dies sehr treffen, auch wenn er unser Haus schon lange nicht mehr mit seinem Erscheinen beehrt hat.
Meldungen über die anstehende Neuorganisierung dürfen nur wieder über unseren Kurier erfolgen. Dass wir ausgebombt sind, wird man in der Prinz-Albrecht-Straße bereits erfahren haben. Jedoch,
wie
wir uns neu formieren, installieren, das soll man im SS -Palais erst dann erfahren, wenn die Kuh vom Eis ist. SD und Gestapo würden nur allzu gern die (schon seit langem erhoffte) Gelegenheit beim Schopf ergreifen, uns mit sogenannten Hilfsangeboten unter das eigene Dach zu locken, zu holen, zu ziehen, zu zerren – wie auch immer man das ausdrücken mag. Doch wir sind, trotz aller Erschütterung und Zermürbung, eisern entschlossen, die Arbeit der Amtsstellen unter der bewährten Amtsführung durch Oberst Clemens Prinz von Hessen-Nassau weiterzuführen, auch wenn sich Auslagerungen nicht vermeiden lassen.
Für uns als Wichtigstes zuerst: Ich werde Forschungsstelle A weiterhin von Berlin aus leiten, in neuem Domizil. Möglicherweise ziehen wir in eine Villa im Spreebogen – das wird sich heute Nachmittag oder morgen Vormittag entscheiden. Unsere Erfassungsstelle muss jedenfalls ortsfest bleiben wegen der im Stadtareal gebündelten internationalen Durchgangsleitungen – soweit erhalten. Unsere Arbeit wird freilich fürs Erste fortgesetzt mit reduzierter Zahl von Mitarbeitern – so viele Erfassungsstellen wie bisher werden sich in neuen Räumlichkeiten kaum unterbringen lassen.
Und die Abteilungen B bis F? In rasch anberaumter Keller-Krisensitzung tauchte der Vorschlag auf: Auslagerung nach Breslau. Die Stadt ist von Bombenangriffen bis dato fast völlig verschont geblieben, dort steht Nutzraum zur Verfügung.
Kein Zufallstreffer, auch in Breslau haben wir, seit kurzem, einen Verbindungsmann: Die vom Generalgouvernement nach Königsberg zurückverlegte Außendienststelle musste vorsichtshalber noch weiter westwärts verlagert werden, sprich: nach Breslau. Dort hat Meyer-Camberg, unser »Quartiermeister«, Unterschlupf gefunden in einer Kaserne, in der ein Teil der Räume leer steht, in die wir, theoretisch, nachrücken könnten. Sobald sich hier eine Lösung abzeichnet, werde ich Dich und damit RM in Kenntnis setzen.
Es ist vieles erschüttert worden diese Nacht, auch in puncto Zukunftsglaube. Berlin gleicht einer Trümmerwüste. Korrespondierend: Unmut in der Bevölkerung. Wo bleiben Görings Nachtjäger? Wo bleibt die Wunderwaffe, die Goebbels laut Radiobericht das Blut in den Adern gefrieren ließ, als ihm die Wirkung erstmalig vorgeführt wurde? Wisst ihr da draußen, wie Berliner dieses Mirakel nennen? Die Gefrierbombe! Volltreffa, wa?!
Volltreffer eines Blindgängers! Während die verhassten Mosquitos mit dem Abwurf von Blitzlichtbomben über diversen Städten den jeweiligen Schadensfortschritt dokumentieren, müssen wir uns an der Gefrierbombe des Dr. G. warmhalten.
Dein Faszikel wächst, lieber Walter, und meine Sicherungskopie nimmt zu an Umfang im streng gehüteten Panzerschrank.
Das beinah feldgraue Büchlein mit dem Kolberg-Schauspiel freilich liegt offen auf dem Nachttisch meines Dienstschlafzimmers.
Wenn ich nicht schlafen kann
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