Das Gesetz des Irrsinns
authentisch, aus seinen Aufzeichnungen. Die wurden 1888 veröffentlicht in der »Deutschen Schriftsteller-Zeitung« unter dem Titel »Ein Hamburger Schriftsteller vor zwanzig Jahren«. (Das Marbacher Literaturarchiv hatte mich, vor etlichen Jahren, in Sachen Lyser unterstützt durch Auflistungen bibliographischer Angaben wie durch Fotokopien entlegener Texte).
Lyser, Juli 1867 : »Keinen Schilling Geld! Es ist nur gut, dass ich mich so unwohl fühle, dass ich keinen Appetit habe; so werde ich den strengen, unfreiwilligen Fasttag noch leidlich durchmachen, vielleicht sogar noch etwas schreiben können, obwohl das Wetter wieder ganz geeignet ist, die Menschen krank zu machen. […]
Ich zwinge mich zur Arbeit, aber es greift mich sehr an, denn außer Wasser habe ich nichts, und dies darf ich nicht trinken, da ich am Durchfall leide. Gott bessers! […]
›Der liebe Gott verlässt keinen dummen Deutschen‹ – will sich das auch an mir bewähren? – Bei einer Tasse miserablem Kaffee ohne Zucker und Rum – unsere verfälschte Milch verabscheue ich – und einer Pfeife Sechslingstabak schrieb ich die ersten drei Szenen zum ›Paul Jonas‹, brachte sie zu Dannenberg und erhielt wider mein Erwarten 4 Schilling, konnte mich also an Brot und Schafkäse satt essen. […]
In dem scheußlichen, fußtiefen Morast, der seit Wochen alle Straßen bedeckt, sind meine armen Schuhe beinah gänzlich zugrunde gegangen.«
Im folgenden Januar wurde es für den Dreiundsechzigjährigen nur schlimmer. »Wetter: Heute früh so dunkel wie gestern, leider den ganzen Tag. Dazu schlechte Tinte, womit ich nur mühsam das Gedicht ›An die Geschworenen‹ abschreiben kann. – Es ist wirklich arg. – –
Ein Pferdebrot. Meine Wirtin war gestern wieder [wie]
en Sau
besoffen, wurde Abends noch so maliziös, dass ich sie beinahe geohrfeigt hätte, allein ich bedachte, dass das
verrückte L
… völlig
unzurechnungsfähig
ist, doch ziehe ich aus, sobald ich bessere Kleider habe. […]
Den ganzen Tag über erbärmlich trübes dunkles Wetter. Zu zeichnen keine Möglichkeit. Bis 11 Uhr Vormittag flickte ich, so gut es gehen wollte, meine alten, kaum mehr zusammenhaltenden Hosen aus. […]
Abends begann ich auch noch die Umarbeitung des Beethoven, wurde dann aber so krank, dass ich circa siebenmal in den Keller musste. Ich darf nichts Warmes mehr essen, denn in Folge dessen haben sich zu meinem nun bereits schon zehn Tage anhaltend alle Kräfte aufreibenden Durchfall auch noch Hämorrhoidalleiden eingestellt, die mich furchtbar quälen. […]
Zu Hause und gearbeitet, so lange mein Licht ausreichte und dann zu Bette. Ich verlor heute einen von meinen letzten 6 Zähnen und fand auf der Straße –
einen Dreiling
. – Ironie!«
Noch einmal Friedrich Hirth, unser Einleitungszitat fortsetzend, damit überleitend zu Bettine von Arnim.
Das Wechselspiel von Fakten und Fiktionen »war seit 1830 Mode;
Bettine
konnte nur so ihre ›Briefwechsel‹ ausarbeiten, indem sie mit der historischen Wahrheit kühn umsprang, die Tatsachen – wie man namentlich bei ›Goethes Briefwechsel mit einem Kinde‹ nachgewiesen hat – immer für ihre Zwecke adaptierte, Briefe erdichtete. Auch sonst waren solche literarischen Fälschungen damals Mode.« So wird auch für mich ein Bezug hergestellt von Lyser zu Bettine von Arnim.
Sie schrieb vielfach über Personen, die historisch nachweisbar sind; sie erfand, sie entwickelte keine fiktiven Romangestalten. Also stellt sich fortlaufend die Begleitfrage: Ist wahrheitsgetreu, was sie vor allem über Goethe schreibt? Sie hat ihn gekannt, nachweislich, auch Frau Christiane, mit der sie mal ins Handgemenge geriet. Im Vergleich zwischen Bettines Texten und philologisch akkreditierter Texttreue zeigt sich: Bettine erschrieb sich eine Wirklichkeit
neben
der dokumentarisch verifizierbaren Wirklichkeit. Erschrieb sich eine Wirklichkeit, die so plausibel, so wahrscheinlich, so stringent erscheint wie bezeugte Realität. Sie reichert Wirklichkeit an mit weiteren Elementen von Wirklichkeit, erzeugt eine Legierung, ein Amalgam.
Alternativ formuliert: Sie bringt eingefahrene Muster der Realitätswahrnehmung auf lustvolle Weise ins Schwingen, lässt oszillieren. Vor allem Briefe von Goethe an Bettine sind frei ergänzt, sind weithin sogar frei erfunden, wurden ihm dennoch zugeschrieben, sind also, strenggenommen, gefälscht. Dies aber derart perfekt, dass die Lust an der Lektüre kaum getrübt wird. Und so vergleiche ich nur
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