Das Gesetz des Irrsinns
Spitze der Injektionsnadel im Mund des Führers soweit nach innen, dass sie die Fühlung mit dem Knochen verlor. Dann wurde die Kanüle (mit äußerster Vorsicht!) etwa anderthalb bis zwei Zentimeter weit vorgestoßen und es erfolgte die Einspritzung von 5 ccm (erhöhte Dosierung zur Sicherung vollkommener Gefühllosigkeit!). Mit einer Erleichterung, die er mit keiner Silbe, keiner Andeutung einer Geste verriet, wartete Großvater darauf, dass die Unterkieferseite des Führers samt deckender Schleimhaut und Unterlippenhälfte gefühllos wurde.
Behandlungssitzungen in der Reichskanzlei erfolgten stets unter Aufsicht eines Uniformierten der Leibstandarte SS »Adolf Hitler«, jederzeit bereit, schon beim bloßen Verdacht eines eventuellen Übergriffs (des rangmäßig Höheren!) von der Dienstwaffe Gebrauch zu machen. Die Überwachung wurde zeitweilig sogar verdoppelt, nachdem Hanrath (freilich erst nach Unterzeichnung des Nichtangriffspakts!) auf Befragen bekundet hatte, er ließe sich auch nach Moskau einfliegen (und bitte wieder ausfliegen), sollte Stalin seine zahnärztliche Betreuung wünschen. Überlieferter, von H. J. Blaschke übernommener Ausspruch: »Wenn ein Mensch Schmerzen bekommt und ich sie lindern kann, so hat dies nichts mit Politik zu tun.«
In diesem Kontext kann ich mich einer naheliegenden Assoziation nicht erwehren: Die Lebensgefahr, in der Stalins Barbier jeden Morgen schwebte. Zu jener Zeit wurde ja noch mit dem Rasiermesser und nicht mit der Rasierklinge (im Sicherheitsgerät) gearbeitet, und so hätte ein blitzschneller Schnitt durch die weiche Gurgel des Diktators den Lauf der Weltgeschichte entscheidend verändern (und zugleich das Leben des Barbiers beenden) können, was allerdings durch die routinemäßige Anwesenheit zweier NKWD -Offiziere ausgeschlossen blieb.
Bei der vor allem psychisch extrem angespannten Tätigkeit erwies es sich als spürbare Arbeitserleichterung für Großvater, dass (versteht sich: auf sein Betreiben!) in Reichskanzlei, Berghof und Führerbunker eine zahnärztliche Station eingerichtet wurde, jeweils mit einem modernen Behandlungsstuhl. In den Schwerpunktprogrammen der Kriegswirtschaft wurden Behandlungsstühle aus der Industriefertigung ausgeklammert, konnten auch nicht über Schweiz oder Schweden importiert werden, ergo erfolgte Zugriff auf Behandlungsstühle aus Praxen jüdischer Zahnärzte im Großraum Berlin. Es versteht sich von selbst, dass Großvater die konfiszierten Objekte desinfizieren und, soweit nötig, aufbereiten ließ, wobei er den Zahnärztlichen Dienst des SS -Hauptamtes in Anspruch nehmen konnte. Taktvollerweise wurde dem Führer verschwiegen, dass jüdische Zahnärzte (später: ›Zahnbehandler‹) auf dem jeweiligen Behandlungsstuhl auch (und zuletzt nur noch) jüdische Patienten behandelt hatten.
Ohne hier auf das (auch familienintern überlieferte) Zahnprofil Hitlers einzugehen, darf ich erwähnen, dass vor dem Einzementieren einer dreigliedrigen Vollgussbrücke der zweite Prämolarzahn des Oberkiefers (Vereiterung!) extrahiert werden musste. Damit ein weiteres Stichwort für Ängste, fast Urängste des Großvaters bei der zahnärztlichen Behandlung des Führers: Eine (fürs erste kaum stillbare) Blutung nach Ausbleiben der gefäßkontrahierenden Wirkung des Lokalanästhetikums. Auf solch einen Fall (wenn auch generell eher die Ausnahme) musste der Führer schonend vorbereitet werden, dies vor allem unter dem Aspekt, dass einer der beiden Leibzahnärzte möglicherweise nicht sofort per Kuriermaschine nach Berchtesgaden oder Rastenburg eingeflogen werden konnte, somit erst ein Feldarzt oder Sanitäter zum Einsatz gelangte.
Letztlich entscheidend: das Imprägnieren von Wattebausch oder Mull durch ein blutstillendes Mittel. Hier schwor Großvater auf Sango-Stop, ein pflanzliches Präparat – was Hitler als Vegetarier gern zur Kenntnis nahm. Sango-Stop wurde aus Früchten, vorzugsweise Äpfeln, gewonnen, denen (ohne chemische Eingriffe!) Pektinstoffe entzogen wurden (die bei der Gelierung von Fruchtsäften ursächlich wirksam sind). Diese Substanzen, so betonte Arthur Hanrath dem Führer gegenüber, seien für den menschlichen Organismus völlig unschädlich, Sango-Stop könne auch in größeren Dosierungen über lange Zeit hinweg zur Anwendung gelangen. Zusätzlich zum Tränken der Mull-Tamponaden könnte Sango-Stop auch intramuskulär injiziert werden, gegebenenfalls mit mehreren Ampullen täglich. Bei leichterer Blutungsneigung komme man
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