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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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zentral gelegene, modern eingerichtete Praxis des emigrierten Juden Ferdinand Kohn. Bereits März 1932 war besagter Person vom Berliner Magistrat mitgeteilt worden, er sei mit sofortiger Wirkung von dem (seit 1926 geführten) Posten als Stadtschulzahnarzt entbunden. Somit eine antisemitische Verfügung bereits ein Jahr
vor
der Machtübernahme der NSDAP !
    Dank konsequent ausgebauter Kontakte wusste Hanrath sen. eine überwiegend begüterte Klientel an sich zu binden. Eine Empfehlung aus diesen Kreisen erging an Joseph Goebbels, Reichsminister für Propaganda. Am Rande vermerkt: Es sammelten sich zahlreiche Passanten an, sobald Dr. Goebbels in der Tauentzienstraße vorfuhr und raschen Schritts das Haus mit der Praxis betrat.
    Goebbels, mit Hanrath mehr als zufrieden, empfahl ihn weiter an Hitler. Ende Mai 1934 erhielt Großvater einen Anruf aus der Reichskanzlei: Der Führer hat Zahnschmerzen. Die naheliegende Bitte, der Führer möge sich in die Privatpraxis begeben, war wegen des unvermeidlichen öffentlichen Aufsehens nicht realisierbar; so verstand es sich von selbst, dass sich Arthur Hanrath samt Praxishelferin und Instrumentenkoffer mit einem PKW der SS -Fahrbereitschaft zur (alten) Reichskanzlei fahren ließ.
    Was dort fehlte, war ein geeigneter Untersuchungs- und Behandlungsstuhl. So musste Hitler auf einem an die Wand seines Arbeitsraums gerückten Stuhl behandelt werden, den Hinterkopf angelehnt. Als Erstdiagnose: Zahn 5 Karies, vier gelockerte Zähne. Es erfolgte eine routinemäßige Behandlung des schmerzenden Zahns, durchgeführt mit äußerster Vorsicht und absoluter Sorgfalt. Am nächsten Tag ein Anruf der Adjutantur: Der Führer spreche Dank und Anerkennung aus, er sei schmerzfrei.
    Wenige Wochen später wurde Großvater, seit 1929 Mitglied der SS , auf Weisung Hitlers vom Reichsführer SS befördert. Als Sturmbannführer trug er außer Haus fortan stets die schwarze Uniform. Der höhere Dienstgrad stärkte erneut das Vertrauen des Führers, Arthur Hanrath avancierte zum zweiten Leibzahnarzt. In jeweiliger Absprache mit dem (vielbeschäftigten) Vorgesetzten, Reichszahnarzt H. J. Blaschke, führte Hanrath gelegentlich Zahnbehandlungen durch in der Reichskanzlei, im Berghof zu Berchtesgaden, im Führerhauptquartier Wolfsschanze.
    Großvater legte Wert auf die Feststellung, dass er in der Allgemeinen SS die üblichen Stationen durchlaufen hatte: Halbjährige Ausbildung mit der Waffe, halbjähriger Kurs in einer SS -Unterschule, neunmonatiger Lehrgang in der SS -Junkerschule Braunschweig: Rassenlehre, Rassenhygiene gemäß dem ›Herrschaftsanspruch des nordischen Blutes‹ unter den Leitkategorien von Auslese und Ausmerzung.
    Es verstand sich von selbst, dass Großvater dem Führer keine Rechnungen ausstellte, vielmehr erfolgten pauschale Überweisungen durch die Reichskanzlei, einmal in Höhe von 5000 , sodann von 11 000 Reichsmark, was (in Kaufkraft umgerechnet) zum gegenwärtigen Zeitpunkt einem fünf- bis zehnfachen Betrag in Euro entsprechen dürfte. In der Tat Honorierungen, wie man sie früher als fürstlich oder königlich bezeichnet hätte. Kein Wunder, dass unter Berliner Kollegen diverse Gerüchte in Umlauf kamen, verbunden mit kontroversen, nicht immer freundlichen Kommentaren. Gewiss, die Zahlungen waren exorbitant, es muss jedoch berücksichtigt werden, welch zusätzlichen Belastungen Arthur Hanrath ausgesetzt war: Der Führer musste mit äußerster Behutsamkeit und höchster Konzentration behandelt werden.
    Um der geschätzten Redaktion einen zumindest ungefähren Eindruck von der höchstes Fingerspitzengefühl verlangenden Tätigkeit des Großvaters in Reichskanzlei und Führerhauptquartier zu vermitteln, zwei Stichworte: Betäubung und Nachblutung.
    Die Leitungsunterbrechung oder Leitungsbetäubung des Nervus mandibularis war für Arthur Hanrath reine Routinesache, wurde bei der Behandlung des Führers jedoch von der Urangst eines Zahnarztes begleitet, die Injektionsnadel könnte am knöchernen Widerstand der Lingula abknicken, könnte die Zunge verletzen. So führte er bei Hitler die Betäubung durch wie ein Anfänger, der sich Schritt für Schritt souffliert, was es auszuführen gilt: Legte im Verfolg rechtsseitiger Betäubung bei weit geöffnetem Mund des Führers die linke Zeigefingerspitze (vorsichtig!) auf das Trigonum retromolare, setzte die Nadelspitze (vorsichtig!) etwa einen Zentimeter oberhalb der Kauebene auf das Trigonum auf, zog die Kanüle leicht zurück, verlagerte die

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