Das Gesetz des Irrsinns
Parodontose erheblich gelockerten Zähne könnte in der elastischen Masse des Abdrucklöffels steckenbleiben. Diese Sorge, ja Furcht erwies sich jedoch als unbegründet. Für den Rückflug von Zahnarzt, Praxishelferin und Abguss blieb eine Maschine der Führerstaffel startbereit; dies erst recht für den Ostflug von Großvater, Helferin und Vollgusskrone.
Bei dieser Mission wurde die Ju 52 von Messerschmitt-Jagdflugzeugen steuerbord wie backbord begleitet. Dabei wurde eine der Me 109 von zwei feindlichen Jagdflugzeugen in einen Luftkampf verwickelt, der mit Verlust der Begleitmaschine endete. Dem Piloten gelang es mit knapper Not, das in Brand geratene Flugzeug rechtzeitig auf den Kopf zu stellen und sich mit dem Fallschirm aus der Kanzel fallen zu lassen – Schleudersitze wurden zu jener Zeit zwar erprobt, gelangten im weiteren Verlauf des Kriegsgeschehens aber nicht mehr zum Einsatz.
In Anbetracht der 1944 fast absoluten Luftherrschaft der Alliierten war der Transport von Leibzahnarzt, Helferin, Instrumentarium per Kurierflugzeug letztlich nicht mehr zu verantworten, und so wurde einer der für Reichsmarschall Göring bereitgehaltenen Sonderzüge zum Transport von Leibzahnarzt, Helferin und (fünfgliedriger, zweispanniger) Vollgussbrücke auf Führerweisung »ausgeliehen«. So konnte Arthur Hanrath den Salonwagen von Göring nutzen, einschließlich der Toilette mit der übergroßen Klobrille, spezialgefertigt mit Rücksicht auf die anatomische Besonderheit des Reichsmarschalls, die sich exemplarisch ausprägte, wenn Göring beim Empfang etwa von HJ -Führern betont volkstümlich die kurze Lederhose trug.
Am Rande vermerkt: Hugo Blaschke ließ sich bei der zahnärztlichen Behandlung Görings gern von Großvater vertreten, da der Luftwaffenchef als typischer Angstpatient schon fünf Minuten vor einer eventuell etwas schmerzhaften Injektion die ersten Schreie auszustoßen pflegte, was H. J. Blaschke »den letzten Nerv« kostete und den zur Ersatzausführung abkommandierten Leibzahnarzt Hanrath zu äußerster Behutsamkeit bei der Behandlung mahnte.
Überhaupt entwickelte sich in zunehmendem Maße eine gewisse Arbeitsteilung zwischen dem auch sanitätsdienstlich vorgesetzten SS -Obersturmbannführer Blaschke und SS -Sturmbannführer Hanrath. Wie intern verlautete, kostete H. J. Blaschke die zahnärztliche Behandlung des Führers ein womöglich noch höheres Maß an Nervenkraft: acht Sitzungen nur für eine einzige Wurzelbehandlung! Und dies, wie Blaschke unter dem Siegel absoluter Geheimhaltung verlauten ließ, bei Hitlers durchweg extrem starkem Mundgeruch. So bedurfte es kaum einer Überredung durch den Reichsführer SS , dass Blaschke die Aufgabe übernahm, zwischen den feindlichen Lagern der Dentisten und Zahnärzte zu vermitteln, zweier Gruppierungen, die sich wahre Grabenkämpfe lieferten. Als weiterer, gern übernommener Sonderauftrag: Zahnärztliche Stationen in Konzentrationslagern einzurichten, vorrangig zur Betreuung der Wachmannschaften, nicht hingegen zur Behandlung der Gebiss-Schäden von Häftlingen infolge Misshandlungen.
Großvater Arthur gab gelegentlich zu erkennen: Durch die Arbeitsteilung seien in gewisser Hinsicht Abläufe erleichtert worden, da fortan die Möglichkeit bestand, das für Kronen und Brücken erforderliche Zahngold nicht auf dem Umweg über die (wenig kooperative) Reichsbank zu beziehen; vielmehr ließ sich (auf nun verkürztem Dienstwege) das in Konzentrationslagern verstorbenen Häftlingen brachial entnommene, von der Degussa zu Kleinbarren umgeschmolzene Zahnbruchgold vom SS -Sanitätsamt des SS -Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes anfordern. Dennoch beharrte die Reichsbank darauf, weiterhin mit dem aus »normalen Abgängen« der Konzentrationslager anfallenden Zahnbruchgold über die Goldscheideanstalt beliefert zu werden.
Ein Wort noch zum Sonderzug: Der Salonwagen wurde gesichert durch ein Luftwaffen-Begleitkommando auf zwei Tieflader-Waggons mit jeweils einer Vierlings-Flak zur Abwehr eventueller Tiefflieger. Unter diesem Aspekt waren zwei Lokomotiven vorgespannt für den Fall, dass einer der Loks der Kessel durchschossen wurde. Es kam freilich nicht zu einem Jabo-Angriff auf den Sonderzug; Großvater konnte aufatmen.
Wiederum niederdrückend waren die meist aus technischen Gründen verlangsamten Fahrten durch weitgehend zerbombte Städte mit der schlechthin deprimierenden Folge von Ruinen und Trümmerhalden rechts wie links der Bahntrasse. Darüber tröstete auch nicht
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