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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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zigarettenschmalen Schlitz. So wird die Straße nur schwach beleuchtet, und das bei all den Schlaglöchern, denen Reimann ausweichen muss – Reifen und Schläuche sollen geschont werden. Im Dorf, in das er hineinradelt: kein Lichtspalt unter einer Tür, kein Lichtloch in einem Vorhang. Ohnehin ein Sonntagmorgen, da steht man auch im sechsten Kriegsjahr später auf.
    Die Hausfassaden heben sich kaum ab vom Morgenhimmel, nur zu ahnen der Kirchturm. Ein Hund schlägt an, doch nur kurz, als würde er die Stille im Dorf respektieren. Nur das Surren des Dynamos, das Klappern des Abdeckblechs über der Fahrradkette. Weit entfernt nun: dumpfes Wummern, sonores Dröhnen. Suggestion: Bomber auf dem Rückflug aus dem Reichsinnern: stand wieder eine Kleinstadt auf dem Programm, weil alle Großstädte mittlerweile zerbombt waren? Das Dröhnen lässt nach, während Reimann weiterfährt. Dröhnen setzt wieder ein: die nächste Staffel. Dann, sich erneut betonend: sirrendes Leiern des Dynamos, gelegentliches Schniefen. Und Morgenhusten, doch ohne Auswurf. Aber mal kräftig nach links gespuckt.
    Weiterhin Schlaglöcher, denen er lässig ausweicht. Streckenweise Kopfstein, da fährt der Radler lieber auf dem sandigen Seitenstreifen zwischen Pflasterung und Alleebäumen. Er hält an: verlassenes Fahrzeug am Straßenrand – Panzerspähwagen, Beutefahrzeug. Wegen Spritmangel stehngelassen? Er lehnt das Rad an die Stahlflanke. Leise, stockend das Pladdern. Muss sich Zeit lassen, lässt sich Zeit. Kleiner Seufzer in der Stille: kein Herandröhnen weiterer Bomberstaffeln. Dafür aber, vom nächsten Dorf her, Hahnenkrähen. Scheinbar friedliches Zeichen. Langsame Aufhellung.
    Reimann steigt wieder aufs Rad. Asphalt mit Schlaglöchern; Rüttelstrecken auf Kopfstein; Sandstreifen, leicht knirschend unter den Reifen. Stille, immer noch, im Westen. Flach, flach das Land. Zuweilen Bäume am Straßenrand. Keine Glockenschläge, viertelstundenweise: zahlreiche Glocken eingesammelt, eingeschmolzen, Läuten der Restglocken unerwünscht. Auch Hunde sind rar geworden. Keine akustische Markierung der Ortschaft vor ihm: Anrath.
    Dicht gereiht kleine Häuser. Dann eine weithin aufgerissene Fläche, Trümmer. Bald schon vor ihm: hochragende, breit gelagerte Baumasse. Abgehoben vor dem Morgenhimmel der erstaunlich hohe Turm. Wie entflogen der Wetterhahn.
    Die Querstraße, Landstraße ostwärts: Geräusch von Rädern auf Kopfstein, Hufschlag, Schritte: Flüchtlinge.
    Notizen: Ein Pkw mit belgischem Kennzeichen – Wehrmachtsoffiziere mit weiblicher Begleitung … Zu Fuß: alte Frauen, alte Männer – kamen wohl nicht so schnell weg aus ihren Häusern, von ihren Höfen, vielleicht noch in der Hoffnung auf die »Wunderwaffe«, die blieb jedoch Gerücht. Sind die Nacht durchgefahren, geritten, gegangen, die Dunkelheit als Schutz vor Tieffliegern, »Jabos« … Aktentaschen, Beutel, Rucksäcke, Koffer … Ein Pferdefuhrwerk, Soldaten auf Heu, der Rekrut vorn kann sich vor Müdigkeit kaum auf dem Bock halten … Eine Feldküche, hohl scheppernd … Wieder Bauern: Schubkarre, Handkarren, Leiterwagen …
    Reimann quert die Straße, schiebt das Rad. Keine Flüchtlinge in der Seitenstraße – leiser das Rollen, der Hufschlag, das Schurchen. Richtungsweiser: Neersen. Das Rad weiterschieben. Anhalten. Drei Klingelschildchen. Er setzt den Taschenlampen-Dynamo mit dem Wippgriff in Gang, leuchtet die Schildchen an. Auf dem oberen: Epstein.
    Das Klingelgeräusch ist nur schwach zu hören im Haus, löst keine Bewegung aus. Auch beim zweiten Signal keine Reaktion. Nun läutet er Sturm. Es öffnet sich, mit weiterer Verzögerung, ein Fenster im Dachgeschoss. »Das dauert aber, bis Sie aus den Federn kommen! Reimann, Schutzpolizei!«
    Schritte, eine Treppe herab: Knarrholz. Die Haustür wird erst spaltweit geöffnet. »Nun machen Sie schon!« Die Frau, Mantel umgehängt, entschuldigt sich: Hatte sich was in die Ohren gesteckt, wegen der Feindflieger, ist spät erst eingeschlafen … Er steigt hinter ihr die nun doppelt knarrende Treppe hoch.
    Eine Wohnküche; die Frau schließt das Fenster, kommt zum Tisch. So früh hat sie mit Besuch nicht gerechnet. Und sie entschuldigt sich wieder: hat es mit der Schilddrüse, auch deshalb Schlafstörungen … Ist noch nicht so ganz wach … Würde gern Kaffee aufbrühen, auch für ihn, richtigen Bohnenkaffee, hat aber nur Muckefuck.
    »Lassen Sie’s mal gut sein.«
    Sie lädt ihn ein, sich einen Moment zu setzen. Er aber will nicht,

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