Das Gesetz des Irrsinns
nur ja keine Ansätze zur Vertraulichkeit – obwohl man sich gelegentlich gesehen, wahrgenommen hat, sie zu Fuß, er auf dem Rad.
Kurze Stille. Eventuell langsamer Kameraschwenk: Der Tisch … der Herd, lädiertes Emaille … die Anrichte … steinernes Spülbecken … Bilder an geblümten Tapeten: ein Stahlstich von Düsseldorf – der dicke Turm vom verschwundenen Schloss … Eine Tuschezeichnung: Fischerboot in kleiner Hafenbucht, auf Ebbeschlick; wie hingehuscht Fassaden von Bürgerhäusern … Gerahmte Fotos. Ein Mann, Pfeife im Mundwinkel, auf der Kühlerhaube eines Wagens sitzend, Füße auf verchromter Stoßstange … Zwei Frauen in einem Paddelboot, eine jüngere, eine ältere … Junge Frau in Turnhose, Turnhemd, und sie zeigt der Kamera eine kleine Siegestrophäe.
Es folgt Reimanns Eröffnung: Amtliche Mitteilung an Marga, geschiedene Baring, geborene Epstein. Er entnimmt der Aktentasche ein Formblatt, verliest den Text, nun erst recht stehend. Und sie: nun erst recht sitzend, Unterarme auf den Oberschenkeln.
Betreff: »Wohnsitzverlegung nach dem Generalgouvernement. Es wird Ihnen hiermit eröffnet, dass Sie innerhalb von zwei Stunden Ihre Wohnung zu verlassen haben. Zum Zwecke der Abschiebung werden Sie vorläufig festgenommen und in ein Sammellager gebracht. Sie werden angewiesen, die Schlüssel an sämtlichen Behältnissen, Schränken und so weiter stecken zu lassen, ebenso die Schlüssel an den Zimmertüren innerhalb der Wohnung. Sie haben mitzunehmen: an Zahlungsmitteln 60 Reichsmark. Einen Koffer im Gesamtgewicht von höchstens 50 Kilogramm. Sie selbst haben sich ein Schild um den Hals zu hängen, auf dem in deutlich lesbarer Schrift Name, Geburtstag und Kenn-Nummer angegeben sind.«
Reimann liefert mündlich eine Begründung nach für die Abschiebung: Durch die vor Jahren erfolgte Scheidung ist der Schutz durch Mischehe aufgehoben. »Und nun ein Blick auf die Uhren: 6 Uhr 25 . Um sieben werden Sie von einem Herrn der Gestapo abgeholt.«
Aufschluchzen, Tränen. Angst vor der Gestapo, Angst vor dem Lager. Und es könnte zur Sprache kommen: Mehr als zwei Jahre zuvor sind ihre Eltern abgeholt worden, in Düsseldorf, seither hat sie nichts mehr von ihnen gehört. Keine Zeile! Seit Juli 42 – nichts, nichts, rein gar nichts!
Als Antwort: Es gehöre nicht zu den dienstlichen Obliegenheiten der Schutzpolizei, sich über solche Abläufe zu informieren; es lasse sich nur vermuten, dass Werner Israel Epstein im Rahmen eines Arbeitstransports verschubt worden ist; demnach dürfe er in Theresienstadt kaum die Gelegenheit finden, »Postkärtchen zu schreiben«.
Es war aber kein Arbeitstransport, es handelte sich um einen Altentransport! Ihr Vater war damals zweiundneunzig – Greis mit Krücke! Mutter war siebenundachtzig. Sie beide wurden deportiert mit dem Altentransport vor 27 Monaten. Arbeitstransporte hingegen waren schon vorher erfolgt! Also, warum haben die alten Leutchen nicht geschrieben? Nichts, nichts, keine Zeile! Von den anderen im Altentransport hat man auch nichts mehr gehört. Auch nach Aussage eines Mitglieds des Krefelder Judenrats: Keine Nachricht aus Theresienstadt, keine einzige! Schluchzen, heftig, sie kann nicht weitersprechen.
Der Schupo: Wird nichts so heiß gegessen … Dauert alles nicht mehr lang … Kann wirklich nicht mehr allzu lang dauern … »Eigentlich müssten wir wieder die Front hören.«
Überleitend spricht Reimann von der künftigen Nutzung der beiden Zimmer: Auch im Raum Krefeld sind Wohnungen äußerst knapp nach den Bombenangriffen. »Da ziehn hier mit Sicherheit Ausgebombte ein.« Er lässt offen, wie mit hinterlassenem Besitz verfahren wird. Die Polizei kann diesbezüglich, bei kriegsbedingt knapper Besetzung der Dienststellen, für nichts einstehen.
Als Signal, als Zeichen für angemessen kritische Darstellung: Reimann gibt sich selbst ein Stichwort. Rudolf Baring, ihr geschiedener Mann, hatte als Schneider gearbeitet, was im Raum Krefeld meist hieß: als Zuschneider von Seidenkrawatten. Demnach dürfte er die eine oder andere Seidenkrawatte aufbewahrt haben, »für bessere Tage«. Diese Krawatten wird Frau Marga wohl kaum mitnehmen, bei einem Arbeitseinsatz dürfte sich keine Verwendung finden für Seidenprodukte früherer Jahre, deshalb ein Vorschlag zur Güte: Reimann übernimmt eventuell zurückgelegte Seidenkrawatten – zwecks vorsorglicher Sicherstellung, damit sie nicht in »falsche Hände« geraten. Er erklärt sich bereit zu einer
Weitere Kostenlose Bücher