Das Gesetz des Irrsinns
verheizten Zwischenzäunen) Richtung holländische Grenze absetzen können.
Alternativ hätte sie sich einem der Flüchtlingstrecks ostwärts anschließen können, somit einer der Gruppen, die nicht weiter kontrolliert wurden, was in Anbetracht der zugespitzten Lage schon rein personell nicht durchführbar gewesen wäre.
Reimann hat ihr die Chance zur Flucht verwehrt durch eindeutig zu spätes Erscheinen sowie durch die eindringliche Belehrung, er werde von der Dienstwaffe Gebrauch machen, sollte sie sich ohne strikte Anweisung auch nur in den Hausflur begeben. Demonstrativ, somit für die unmittelbare Nachbarschaft unübersehbar, ist Reimann sodann vor dem Hause patrouilliert.
Kurzum, Reimann hat jeden potentiellen Fluchtversuch verhindert, obwohl ihm klar gewesen sein dürfte, wozu der von mir angesetzte, auffällig lange Vorlauf letztlich intendiert war. Er hat in diesem Punkte schlichtweg versagt.
Um die Unterstellung einer gewissen Einvernehmlichkeit zwischen mir, Friedhelm Reimann, als Vertreter der Schutzpolizei und Gestapo-Hübner bei der Deportation der Epstein zu untermauern, wird von Herrn Baring hingewiesen auf Handlungsoptionen meinerseits im zeitlichen Vorlauf, der nicht den längst üblichen, überfallartigen »Nacht- und Nebelaktionen« entsprochen hätte.
Der Vorlauf von etwa einer halben Stunde hatte technische Gründe. Die Abholung der Epstein mit einem Kraftfahrzeug der Krefelder Dienststelle der Geheimen Staatspolizei war nicht mehr möglich. Insofern blieb Hübner lediglich die eine Option: Abtransport per Fahrrad. Ein Umstand, der bei Erstellung des Zeitrahmens mitbedacht werden musste. Ich darf in dem Zusammenhang erwähnen, dass Hübner zum Zeitpunkt der Aktion bereits 65 Jahre zählte. Auch wenn er gelegentlich in einer Senioren-Fußballmannschaft mitspielte (vorzugsweise im Tor), so litt auch er »seit jeher« unter spezifischen Altersbeschwerden vor allem im Bereich der Kniegelenke. Dies ist mir, als vertrauliche Mitteilung, bei einer der gemeinsamen sportlichen Betätigungen von Staats- und Schutzpolizei zu Ohren gekommen.
Ich konnte und musste davon ausgehen, dass Hübner die Abholung der Epstein per Fahrrad schlichtweg zu viel sein würde. Da sich die Aufgabe nicht auf einen der ungefähr gleichaltrigen Mitarbeiter der Dienststelle delegieren ließ, hätte Hübner leicht ein Alibi dafür finden können, die Fahrt von Krefeld nach Anrath zu unterlassen.
Ich konnte, ja musste also davon ausgehen: Nach Ablauf der vorgegebenen Frist würde Hübner ganz einfach nicht erscheinen. Damit wäre meine Mission beendet gewesen, ich hätte die Epstein ihrem Schicksal überlassen können. Ich war in jenen Tagen, trotz Pensionsreife, mit erheblich wichtigeren Aufgaben betraut und befasst, vor allem mit dem Schutz der Bevölkerung vor marodierenden Plünderern Ost, die in den turbulenten Tagen eigenmächtig ihre Arbeitsstätten verließen und sich durch Raubzüge bereicherten. Wobei ich gleich betonen muss, dass ich angesichts drohender Weiterungen lediglich durch Warnschüsse die Wahrung der bedrohten öffentlichen Ordnung zu gewährleisten hatte.
Theoretisch hätte ich, Werner Hübner, durchaus einen Grund bzw. Vorwand finden können, um die heikle Dienstfahrt zu unterlassen. Mir stand kein Pkw der Gestapo-Außendienststelle zur Verfügung, auch kein Motorrad, mit dem ich gern vorlieb genommen hätte, ich konnte einzig und allein auf mein privates Fahrrad zurückgreifen. Auf Grund meines fortgeschrittenen Alters und angeschlagenen Gesundheitszustandes hätte ich auch ohne ärztliches Attest begründen können, weshalb ich an jenem frühen Sonntagmorgen die Fahrt nach Anrath unterlassen hätte. Dies auch mit dem Argument, dass ich – bei entsprechender Witterungslage sowie der mittlerweile uneingeschränkten Luftherrschaft der Alliierten – in die Gefahr geraten wäre, von einem Tiefflieger unter Beschuss genommen zu werden.
Ausflüchte solcher Art waren leider nicht möglich, denn ich stand unter Druck. »Fünf Minuten vor zwölf« war aus der Anrather Nachbarschaft der Jüdin eine Anzeige eingelaufen in unserer Dienststelle: Obwohl Marga Sara Epstein nicht mehr den Schutz der Mischehe genieße, falle sie, aus einem sicherlich technischen Versehen, noch immer nicht unter die besondere Lebensmittelrationierung für Juden. Hinzu komme, dass sie während der sich häufig wiederholenden Fliegeralarme »provozierend frech« zu den Feldern hinausspaziere, wobei der berechtigte Verdacht
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