Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
sein. Möglicherweise ist es der Kapitän. Ohne Zweifel war er es, der die Vorfälle inszeniert hat, die rund hundert Menschenleben gefordert haben. Trotzdem begreife ich nicht ganz, was er damit erreichen wollte.«
Rasser schaute sich hastig um; dann beugte er sich vor und flüsterte: »Woher wissen Sie das?«
»Mir hat niemand etwas gesagt, keine Bange. Ich habe mich lediglich bemüht, gewisse Schlussfolgerungen zu ziehen, und ich glaube nicht, dass ich mich geirrt habe.«
Sie sahen einander fast wie Komplizen an. Dann richtete Rasser sich wieder auf.
»Es könnte sein, dass die Regierung von Neudachren schwankt«, erklärte er. »Demnächst wird es wahrscheinlich Neuwahlen geben. Ich bin sicher, dass General Wolf B’chir Stimmen verlieren wird, und dann würden sich einige Dinge ändern.«
Suvaïdar nickte. »Ich hoffe es«, sagte sie. »Und ich wünsche mir für Sie, dass die Stürme nicht allzu schlimm werden. Dies wird mein letzter Besuch vor der nächsten Regenzeit gewesen sein.«
»Sie gehen für die nächsten vier Monate nicht nach Schreiberstadt? Das würde ich zutiefst bedauern, denn es gibt niemanden, mit dem ich mich so gerne unterhalte wie mit Ihnen. Sie haben mir geholfen, Dinge in dieser für mich fremden Welt zu verstehen. Unsere Gespräche werden mir fehlen.«
»Mir auch, aber ich möchte mich den Traditionen meiner Leute anpassen. Es finden ein paar Feste statt, die wir besonders schätzen.«
»Wirklich? Es wäre interessant, dabei zu sein. Wir wissen nicht viel über Ihr kulturelles Leben.«
Suvaïdar musste innerlich lächeln. Sie fragte sich, wie Seine Exzellenz bei den Duellen, für die man sich bereits seit drei Tagen anmelden konnte, reagieren würde, oder bei den Fechtturnieren, die stets mit einer Vielzahl von Verletzten endeten, obwohl nur Übungswaffen benutzt wurden. Und wie würde er das Fest der drei Monde finden?
»Ich glaube nicht, dass es Ihnen gefallen würde«, erwiderte sie. »Es hat nichts mit den Veranstaltungen gemein, die Sie aus der Hauptstadt kennen.«
»Fehlt Ihnen das soziale Leben von Wahie denn nicht? Wollen Sie nicht wieder dorthin zurückkehren?«
Suvaïdar rief sich die Zeit in Erinnerung, die sie auf Wahie verbracht hatte. Sicher, das Leben war einfacher gewesen, vier Stunden Dienst statt zwölf, aber wohin hatte zum Schluss die Freiheit geführt, die sie sich so sehr erhofft hatte? Nach der Arbeit hatte sie nach diversen Anläufen, am sozialen Leben teilzunehmen – oder am »kulturellen Leben«, wie der Botschafter es nannte –, die Abende zumeist allein verbracht. Dinge, die ihre Kollegen in Begeisterungstaumel versetzten, hatten sie völlig kalt gelassen. Sie hatte nie verstehen können, was daran so interessant war. Sie konnte nicht umhin, diese Dinge mit der amüsierten Herablassung einer Shiro als »überflüssiges Zeug« zu betrachten.
Sicher, es war angenehm gewesen, ein Apartment für sich ganz allein zu haben, aber hatte sie erst einmal die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen und damit alle Sitabeh – nein, alle Außenweltler, die sie niemals als Landsleute betrachtet hatte –, von sich abgeschirmt, war sie fast immer allein gewesen. Sie zog es vor, den Abend mit zwei männlichen Asix auf einer Matte zu verbringen, statt zwei Sessel zu besitzen, von denen einer stets leer blieb.
Aber das waren Gedanken, die man einem Bewohner Neudachrens, wo eine strenge und moralisch ausgerichtete Religion alles untersagte, was für die Ta-Shimoda Zerstreuung war, nicht mitteilen konnte. Deshalb fiel ihre Antwort diplomatisch aus:
»Ich hatte vor, nur so lange hierzubleiben, bis die Spezialeinheiten sich darüber klar sind, dass ich uninteressant bin. Doch seit meiner Rückkehrt haben sich eine ganze Reihe von Dingen ereignet, die mich bewogen haben, meine Meinung zu ändern.«
Suvaïdar verabschiedete sich höflich, wenn auch nicht formell, denn der Botschafter blieb für sie ein Fremder. Er war zu anders, als dass sie ihn wirklich verstehen konnte, und er war zu fremd, als dass eine Freundschaft sie verbinden konnte, wie er sie sicherhoffte. Trotzdem war er kein Feind mehr, womöglich sogar ein Mitstreiter – bis zu einem gewissen Grad, versteht sich.
Suvaïdar würde nach Gaia zurückkehren und mit sich selbst zufrieden ins Haus der Sadaï gehen. Es war ihr gelungen, ruhig zu bleiben, selbst angesichts der Uniform des Wachpostens. Und sie war im Gespräch mit dem Botschafter viel geschwätziger gewesen, als es ihre Gewohnheit war, aber mit
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