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Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)

Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)

Titel: Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lorusso
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man glauben konnte, alle Pflanzen im Unterholz wären gezielt abgeschnitten worden. An einem seiner Äste hing eine Schieferplatte, gegen die Suvaïdar mehrmals kräftig mit einem Stück Holz schlug, dessen eines Ende mit einem Lappen umwickelt und so zu einer Art Hammer unfunktioniert worden war. Ein dumpfer, kaum hörbarer Ton erklang.
    Nachdem sie sich versichert hatte, dass sich dort kein Skorophonnest befand, setzte Suvaïdar sich auf die Erde. Den Oberkörper an den Stamm gelehnt, wartete sie. Die anderen taten esihr nach. Eine der beiden Asix wollte irgendetwas fragen, doch Suvaïdar gab ihr schweigend zu verstehen, dass sie ruhig sein sollte. Womöglich trugen ihr feierliches Aussehen und ihre Unbeweglichkeit dazu bei, die Wilden zu beeindrucken, die zweifelsohne bereits da waren, um sie zu beobachten, unsichtbar im dichten Unterholz.
    Um den Baum herum wuchs nur das mutierbare Gras von Ta-Shima, Halme mit zwei Spitzen, die fast einen Meter hoch waren. Das Gebiet hier musste in der Hauptsache alkalisch sein, wie das blaue Gras erkennen ließ. Es band die Blausäure und war für Mensch und Tier gleichermaßen giftig. Ein paar Meter weiter erhob sich eine Wand aus Pflanzen in allen möglichen Formen und den verschiedensten Grün- und Blautönen: der Dschungel. Man hörte nur das Säuseln des Windes in den Ästen und hin und wieder ein Rascheln der Blätter, weil ein Tier sich dort zu schaffen machte. Ansonsten war die Stille drückend; der Dschungel war immer schon bedrohlich gewesen. Bei den Tieren war es anders. Sie spürten, wenn sich in unmittelbarer Nähe ein Raubtier aufhielt. Blieb zu hoffen, dass es sich um die Wilden handelte und nicht um irgendein Ungeheuer, das auf der Jagd war.
    Suvaïdar und die anderen blieben eine schier endlose Zeit auf dem Urwaldboden sitzen, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Ab und zu stand einer von ihnen auf, um den Gong noch einmal zu schlagen. Doch nichts geschah.
    Ohne dass sich nur ein Blatt bewegt hatte, erschienen die Wilden mit einem Mal um sie herum mitten im blauen Gras. Es waren fünf Männer, wesentlich stämmiger als die Asix und sehr viel kleiner. Vier waren erwachsen, der Fünfte war ein alter Mann. Er hatte graue Strähnen im dichten Haar, das Schultern und Oberkörper gänzlich bedeckte. Ihre Körper, übersät mit Unrat und den Krusten schlecht verheilter Wunden, waren nackt bis auf einen Lendenschurz aus Leder, der aus Menschenhaut gefertigt sein musste, weil die Haut der einheimischen Tiere wegen der großen Knochenplättchen ungeeignet war, und Vieh züchteten die Wilden nicht. Sie waren geschmückt mit Ketten aus bunten Beeren sowie kleinen und großen Knochen, und in ihrenschmutzigen, verfilzten Strubbelköpfen steckten Halme und Blätter.
    Mit fürchterlichem Geheul sprangen sie nach vorn, als wollten sie Suvaïdar und die anderen angreifen. Dabei wedelten sie wild mit Stöcken, deren Spitzen aus Knochen oder Stein bestanden. Es schien, als wollten sie die Stöcke auf die Fremden schleudern.
    Suvaïdar und Saïda hatten sich fest im Griff und zitterten kein bisschen. Die beiden Asix, die zuerst vor Schreck aufgesprungen waren, setzten sich langsam wieder und taten es ihnen gleich. Die Wilden verharrten etwa einen Meter vor ihnen und hörten auf, ihre Lanzen bedrohlich durch die Luft zu wirbeln. Der Alte grummelte irgendetwas, das sich anhörte wie der Schrei eines Tieres, doch Suvaïdar, die diese Wilden oft hatte sprechen hören, wusste, dass sie eine elementare Form der Gorinsprache verwendeten. Sie erkannte die Wörter »Frau Medikament« – den Spitznamen, den die Wilden ihr gegeben hatten, als sie im Gesundheitszentrum gearbeitet hatte. Nicht dass Suvaïdar glaubte, dass die Wilden sie erkannt hätten – zweifellos nannten sie alle Ärztinnen so, die hier arbeiteten.
    »Ja«, antwortete sie und versuchte, sich deutlich zu artikulieren. »Bist du der Vater des Stammes?«
    Der Alte lächelte stolz und zeigte seine scharfen Zähne, die an Hundezähne erinnerten.
    »Vater von vielen Kindern, Stammesvater«, grummelte er und umfasste voller Stolz seine Genitalien unter seinem Lendenschurz. »Stamm des Mondes. Noch größer, noch stärker, tapfere Krieger. Die anderen Stämme, unsere Füße sie niedergetrampelt, alle, auch den Sohn des Flusses.«
    Verächtlich spuckte er auf den Boden; dann schlug er mit der Hand auf seine Brust und ließ dabei eine aus Knochen gefertigte Kette erklingen, die Suvaïdar als menschliche Fingerglieder

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