Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
bewerkstelligen. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren und die Augen von dem zu lösen, was die Silhouette im Kittel, die ihr den Rücken zugewandt hatte, gerade machte. Mit völligem Gleichmut hatte sie begonnen, eine klassische Autopsie vorzunehmen. Sie hatte einen Y-Einschnitt von den Schlüsselbeinen bis zum Bauchnabel gemacht, ohne sich in irgendeiner Weise Gedanken darüber zu machen, dass unter ihrem Skalpell ein Tier oder eine Tier-Mensch-Chimäre lag, die lebte und bei vollem Bewusstsein war.
Enthusiastisch und ausführlich erklärte Maria die Modifikationen der inneren Organe und deren abwegiges Funktionieren. Suvaïdar schloss für einen Moment die Augen, weil sie es nicht sehen wollte. Sie konnte mit relativer Gleichgültigkeit bei einem Ehrenmord im Fechtsaal dabei sein, doch diese unmotivierte Grausamkeit war zu abscheuerregend. Trotzdem zwang sie sich, die Augen wieder zu öffnen. Wenn diese Frau die Wurzel des Jestak-Clans war, die berühmte Wissenschaftlerin, die am Genom der Shiro eine Reihe von Modifikationen vorgenommen hatte, wollte Suvaïdar sich die Aufzeichnungen bis zum Ende anschauen.
Die Jestak redete und redete und wechselte von einem Thema zum nächsten, wobei sie die Wörter durcheinanderbrachte undvier verschiedene Versuche beschrieb. Jedes Mal wurde die entsprechende Chimäre einer Autopsie unterworfen, um die Veränderungen anschaulich zu machen. Das letzte Exemplar war ein A 5, der einem Asix schon sehr ähnlich war. Suvaïdar musste an dieser Stelle unterbrechen, um rasch zu den Toiletten zu gehen, wo sie ihr Frühstück erbrach. Wieder zwang sie sich, weiter zuzuschauen und sich immer wieder einzureden, dass es kein Asix war.
Marias Worte wurden immer konfuser. Sie schaute ständig hinter sich, und ihre wissenschaftlichen Erklärungen waren von sprunghaften Bemerkungen durchsetzt.
»Sie waren nicht sehr treu mir gegenüber, aus Neid gegenüber einem höheren Geist wie dem meinen. Sie sind immer einverstanden, sie beachten mich immer, wenn ich vorbeigehe, aber sie können Gedanken lesen, und ich muss aufpassen. Sie verschwören sich hinter meinem Rücken. Gestern hat Sobieski hinter sich geschaut, als ich vorbeiging. Auch er überwacht mich. Es ist eine Verschwörung. Sie verachten mich für das, was ich bin, und sie sind neidisch auf mich. Aber sie werden schon sehen, was ich wert bin, und das wird ihnen Angst machen. Ich tue, was getan werden muss, und meine neuen Inkarnationen sind schon bereit.«
Wieder legte sie die Hand auf die Stirn und schwieg einen Moment. Als sie dann fortfuhr, wurde ihre Rede noch zusammenhangsloser, und sie wiederholte sich mehrere Male. Trotz ihrer fanatischen Stimme blieb ihr Gesicht ausdruckslos und unbewegt, und ihr Blick verlor sich in der Leere. Ohne Grund brach sie plötzlich in ein vulgäres Lachen aus; dann nahm sie von Neuem ihren monotonen, sinnlosen Diskurs auf.
Suvaïdar stoppte das Band und machte sich auf die Suche nach Yoriko Sobieski und ihrer Thermobox mit Tee.
»Du hast es dir bis zum Ende angeschaut?«, fragte Yoriko.
»Ja. Ich habe immer geglaubt, dass unsere Vorfahren Opfer der fanatischen Theokratie Landsends geworden sind. Jetzt aber frage ich mich, ob ich ihnen nicht dabei geholfen hätte, eine der Raketen abzufeuern.«
»Weißt du, dass wir die Aufzeichnung zufällig entdeckt haben? Sie war in einem tragbaren Memo mit Untersuchungsprotokollenüber Hunde verschlüsselt. Ich frage mich wirklich, wie jemand das unter den Tisch hat fallen lassen können. Nachdem wir begriffen hatten, dass ein Teil der Botschaft verborgen war, hat es Wochen gedauert, die Aufzeichnung wiederherzustellten. Die Sequenz wurde in einem ganz bestimmten Moment unterbrochen und erst elf Minuten später wieder aufgenommen. Das war ein irrsinniger Code. Hätte sie gewollt, dass jemand ihn findet, hätte sie Schlüsselziffern einbringen müssen. Ohne einen Asix Van Voss, der sich mit der künstlichen Intelligenz und den Comp-Systemen im Krankenhaus beschäftigt und zwei Tage damit zugebracht hat, wäre die Botschaft weitere sechshundert Trockenzeiten lang verborgen geblieben. Maria Jestak musste bereits schizophren gewesen sein, als sie noch in Estia lebte, sonst könnte ich mir einige ihrer Forschungen nicht erklären – und auch nicht die Tatsache, dass sie ihre Schimären auf anderen Planeten zerstreut hat. Die Krankheit war zweifelsohne unterschwellig. Sie ist ausgebrochen, als sie dem Stress der Flucht und der Landung hier ausgesetzt wurde.
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