Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
arbeiteten, den Gemeinschaftssaal verließen. Dann schlich sie unbemerkt bis zu den Zimmern der Matriarchin. Bevor sie eintrat, warf sie einen Blick nach allen Seiten, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich niemand sie gesehen hatte.
Odavaïdar bewohnte ein Apartment, das aus einem Vorzimmer und zwei Räumen bestand. Der erste Raum war das Büro, in dem sie arbeitete und Besucher empfing. Von dort aus ging es in ihr privates Zimmer – und dort begann Suvaïdar. Die Durchsuchung war schnell beendet. Es gab nur die Matte und die Kiste mit ein paar Kleidungsstücken zum Wechseln. So traditionsbewusst wie die alte Dame war, besaß sie kein einziges persönliches Stück. Man hätte meinen können, dass sie im Lauf ihres langen Lebens noch nie ein Geschenk erhalten hatte, das ihr Apartment ein wenig aufhellte, oder dass sie noch nie an einem Meeresstrand einen bunten Kiesel oder eine Muschel gefunden und mitgenommen hatte, um die strenge Monotonie ihrer Zimmer zu durchbrechen.
Für das Büro brauchte Suvaïdar etwas länger. Darin befanden sich Holo-Cubes und Dokumente aller Art, die Suvaïdar schnell sichtete, doch es ging darin nur um den Austausch mit den anderen Clans: Arbeitsstunden gegen Handelswaren; Käse des Gantois-Clans im Tausch gegen gedörrten Fisch; Getreide des Bur-Clans im Tausch gegen eine Reihe elektronischer Ziffern – virtuelle Werte, die ihrerseits dazu dienten, Ersatzteile für das Comp-System oder den Kommunikator anzuschaffen.
Was hast du denn hier zu entdecken gehofft?, fragte Suvaïdar sich frustriert und schloss leise die Tür hinter sich.
Sie wollte gerade gehen, um sich vor der Nachtschicht noch ein wenig auszuruhen, als sie aus einer plötzlichen Eingebung heraus die Tür zu Middaels Zimmer öffnete. Der Raum machte sofort einen unangenehmen Eindruck auf sie, und sie sah sich besorgt um, während ihr immer wieder die Frage durch den Kopf ging,wer sie geschlagen haben mochte. Hier gab es nichts weiter als Betttücher, die unordentlich auf der Matte lagen, und die Kiste. Sie war nicht richtig verschlossen, weil ein Gürtel zur Hälfte heraushing.
Suvaïdar schaute genauer hin. Sie kannte diesen Gürtel oder vielmehr diesen Riemen. Sie öffnete die Kiste und entdeckte ihren Beutel, der in Gorival ins Wasser gefallen war. Sie zog ihn hervor, öffnete ihn und entdeckte ein zerknittertes Stück Papier. Die Berührung mit dem Wasser hatte die Schrift praktisch unleserlich gemacht, doch es war Suvaïdars Plan mit den Angaben zu den Bauernhöfen, die sie aufsuchen wollte.
Also war es Middael gewesen, der mit einem großen Stein hinter ihr gestanden hatte. Der Mann, der so nichtssagend war, dass man nicht einmal sagen konnte, ob man ihm an einem bestimmten Tag begegnet war oder nicht. Middael, der Schatten der Saz Adaï – als Berater eine merkwürdige Wahl, da er sich damit begnügte, jedes Mal zuzustimmen, wenn die alte Dame etwas von sich gab.
Suvaïdar ging in das Büro von Odavaïdar zurück, um auf die Schnelle deren Kalender zu überprüfen. In der Zeit, in der sie verreist war, waren Middael keine besonderen Aufgaben zugeteilt worden.
Mit gleichgültiger Miene verließ sie das Haus und ging schnell zum Hospital. Sie stieg die vertraute Treppe hinunter, die ins Zentrum des Genetik-Instituts führte, und sagte Yoriko Bescheid, dass sie die Absicht habe, die künstliche Intelligenz zu benutzen, um einem Gedanken nachzugehen, die ihr gerade gekommen sei. Sie müsse unverzüglich in der persönlichen Vorgeschichte von Middael Huang stöbern.
Den Überprüfungen im Eugenik-Zentrum zufolge war die Einschätzung seiner Person von der Pubertät an wenig erbaulich: unmotivierte Aggressivität, absoluter Mangel an Rechts- und Unrechtsbewusstsein, Mangel an Ehrgefühl, Neigung zur Grausamkeit. Deshalb war er nach der Volljährigkeitsprüfung einer Akademie anvertraut worden. Trotzdem hatte Odavaïdar, der man diese Einschätzungen zugeschickt hatte, es bevorzugt, Middael in ihrer Nähe zu wissen. War ihr damals schon klar gewesen, dass sie eines Tages jemanden wie ihn benötigen würde? Beinahe hätte Suvaïdar sie dafür verachtet – bis ihr klar wurde, dass Tarr sich genauso verhielt, wenn er versuchte, die Jungen, die der Akademie anvertraut wurden, am Leben zu erhalten, obwohl es für das allgemeine Interesse vielleicht besser wäre, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Doch Tarr war ein Asix und ertrug es nicht, einen Shiro zum Tode zu verurteilen, der ihm anvertraut worden war,
Weitere Kostenlose Bücher