Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
hatte. Er suchte in den Berichten nach Hinweisen zum Fieber von Gaia, verlor in der Sterblichkeitsrate der unterschiedlichen Krankheitsphasen jedoch den Faden. Schließlich aber fand er heraus, dass der Krankheitserreger isoliert worden war, wenn auch nicht von den aus Neudachren entsandten Forschern. Seitdem es möglich war, durch bestimmte Vorsichtsmaßnahmen die Ansteckung zu vermeiden, landeten wagemutige Händler auf Ta-Shima, die mit Gewürzen und anderen lokalen Produkten Geschäfte machten.
Li Hao musste daran denken, was er vor Kurzem gelesen hatte: »Eine komplexe und streng reglementierte Gesellschaft ...«
Bei allen Göttern, dieses Ta-Shima – auch wenn es unbedeutend war, was die Zahl der Einwohner und das Handelsaufkommen betraf – war die Antwort auf all seinen Frust. Eine Gruppe von Menschen zu studieren, die im Verlauf der Jahrhunderte einer isolierten Evolution gefolgt waren, war seit Langem der – bis dahin unerfüllbare – Traum eines jeden Anthropologen.
Dennoch zögerte Li Hao.
Wahrscheinlich bin ich der letzte bescheuerte Intellektuelle, der sich für eine tote und zu Grabe getragene Wissenschaft interessiert, nachdem die Welten vereinigt wurden, sagte er sich. Weswegen sollte ich eigentlich dorthin gehen? Was wäre die Alternative? Ich würde den x-ten Artikel schreiben, den niemand lesen wird und weiter Unterricht geben, an dem keiner teilnimmt.
Erneut hob er die Hand und wollte gerade den virtuellen Button drücken, um seine Absage zu übermitteln, als Feng eintrat, wie üblich, ohne vorher anzuklopfen.
»Warum bist du so früh zurück?«, fragte sie in anklagendem Tonfall.
»Ständig wirfst du mir vor, dass ich zu viel Zeit außerhalb des Hauses verbringe, und nun bist du unzufrieden, weil ich früher zurück bin?«, erwiderte er gereizt.
»Du hättest mich wenigstens warnen können! Aber es interessiert dich ja doch nicht, was ich tue oder sage! Du beschäftigst dich ja nur mit deinen Studien! Selbst zu Hause sitzt du die ganze Zeit vor dem Holo-Cube. Was ist das da eigentlich?«
Wie die Mehrzahl seiner Studenten konnte Feng kaum lesen: Informationen, Botschaften, Veröffentlichungen und selbst die Schulprüfungen waren mündlich.
Alle rationalen Gedanken außen vor lassend, hob Li Hao die Hand und drückte den virtuellen Button, der seine Zusage übermittelte, den Posten des Kulturattachés zu übernehmen.
»Kulturattaché?«, sagte Feng. »Was macht ein Kulturattaché denn so?«
*
In den darauffolgenden Tagen schien es Li Hao, als würde ein Tornado über den Sumpf seiner Existenz hinwegfegen: Abschiedsfeste an der Universität, Kollegen, die er nicht kannte und die ihm gratulierten, ohne dass man genau wusste, ob sie sich wirklich für ihn freuten oder einfach nur jubelten, weil er seinen Platz räumen und das Büro frei werden würde, in dem er seinen Unterricht erteilte.
Nachdem Feng entdeckt hatte, dass eine Botschaft so etwas Ähnliches wie ein Konsulat war, hatte sie vorerst ihr Klagen und ihre Proteste eingestellt, so glücklich war sie über die Vorstellung, bald Zugang zur mondänen Welt der Diplomaten und ihrer Gattinnen zu erhalten. Doch unglücklicherweise hatte Li Hao einen Holo-Cube über Ta-Shima in seiner Nachttischschublade liegen lassen, den Feng entdeckt und sich angehört hatte.
»Hao«, jammerte sie, »du weißt sehr genau, dass meine Gesundheit angegriffen ist. Wie kannst du von mir verlangen, dass ich meinen Migräneattacken an einem so weit entfernten, primitiven Ort lebe? Ganz zu schweigen davon, dass es dort nicht mal eine richtige Schule für unseren Sohn gibt ...«
Eine richtige Schule?, dachte Li Hao. Der Junge besucht die Schule so unregelmäßig, dass es vollkommen egal ist, wo er sich aufhält!
»In einem Punkt hast du recht, meine Liebe«, sagte er. »Es ist ausgeschlossen, dass Eng Ao uns nach Ta-Shima begleitet. Er muss jetzt an sein Leben denken, und er ist groß genug, um allein zu bleiben.«
»Was!«, zeterte Feng. »Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich meinen armen Jungen allein zurücklasse, ohne dass sich jemand um ihn kümmert! Gerade jetzt, wo er eine kritische Phase in seiner Entwicklung durchmacht. Das ist unmöglich, das musst du begreifen. Mach das Ganze rückgängig. Was ist dir überhaupt eingefallen, mich so vor vollendete Tatsachen zu stellen? Bevor du zusagst, hättest du mit mir darüber sprechen müssen!«
Li Hao seufzte. »Unser Sohn macht schon seit seiner Geburt eine kritische Phase durch. Es könnte
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