Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
verbreiteten sich die Dinge schnell.
Lara blieb standhaft und behielt ihren ausdruckslosen Blick bei. Endlich erhob sich der Verwalter, und Lara trat beiseite, um ihn vorbeigehen zu lassen. Stumm folgte sie ihm über den Hof und dann den langen Flur entlang.
»Das ist dein Zimmer«, sagte er und öffnete die Tür zu einemkleinen Raun. Es war taghell darin, und das Fenster gewährte den Blick auf einen großen Garten. Der Raum war leer; nur eine Holzkiste und eine zusammengerollte Matte befanden sich darin. Der Verwalter erklärte Lara kurz, wo sie Betttücher finden könne und Kleidung zum Wechseln. Dann riet er ihr, am nächsten Tag in das Gemeinschaftszimmer des Hauses zu gehen und dort auf den Aushang an der Tafel zu schauen, denn durch ihren Einzug könnten sich ihre Arbeitszeiten geändert haben. Dann drehte er sich um und ging, ohne noch ein Wort zu verlieren.
Lara machte sich auf die Suche nach den Dingen, die sie benötigte. Eine ebenso herzliche wie freundliche Lagerverwalterin händigte ihr das Nötigste aus. Dann legte Lara ihre Kleidung in die Kiste, rollte die Matte aus und legte die Betttücher zurecht. Anschließen ging sie noch einmal los, um sich eine Lampe zu besorgen.
Als sie sich so weit eingerichtet hatte, setzte sie sich auf den Boden, den Rücken an die Tür gelehnt, damit niemand unbemerkt eintreten konnte. Ihr war zum Heulen zumute. Wenn sie nicht in Tränen ausbrach, dann einzig und allein aus dem Grund, weil eine jugendliche Shiro nicht weinte. Aber würde ein Erwachsener sie dabei ertappen, gäbe es ungleich mehr – und gute – Gründe, den Tränen freien Lauf zu lassen.
Das Essen mit den anderen Clanmitgliedern verlief alles andere als angenehm. Zu den Mahlzeiten fanden sich jede Menge Leute im Gemeinschaftsraum zusammen, fast ausschließlich Shiro. Ein Asix teilte Lara mit, sie könne am letzten Tisch bei den ganz Jungen Platz nehmen, weit genug von dem Tisch entfernt, an dem auf bequemen Kissen im Schneidersitz die Matriarchin, Velhojori und die anderen Alten aus dem Clan Platz genommen hatten. An den Tischen dazwischen, die für die Erwachsenen reserviert waren, gab es Matten zum Sitzen. Nur die Jungen mussten ihr Essen auf dem Steinboden kniend oder auf den Fersen sitzend zu sich nehmen. Die Ta-Shimoda waren davon überzeugt, dass es nicht gut sei, Kinder und Jugendliche zu verwöhnen; deshalb ermunterte man sie auch nicht, kostbare Zeit am Tisch zu verlieren.
Immerhin war das Sprechen erlaubt, und Lara hörte mehrere,mit leiser Stimme geführte Gespräche, die sich in ihren Ohren zu einem bunten Gewirr verflochten. Hier und da fing sie ein Wort auf, und sie vernahm Mutmaßungen, was es mit der Fremden auf sich haben könne und mit den Umständen ihres Erscheinens, über die niemand informiert worden war.
Laras Nachbar zur Rechten nannte sich Giao, ein noch junger Shiro, den sie bereits aus der Schule kannte. Sie sprach ihn mit seinem Namen an, erfreut, zumindest ein bekanntes Gesicht zu sehen, aber er reagierte kaum auf sie. Ihr Nachbar zur Linken, der bereits stolz den kurzen Haarschnitt Erwachsener trug, obwohl er am Tisch der Jungen saß, stieß sie leicht an und raunte ihr zu: »Du stehst im Augenblick nicht gerade hoch in der Gunst der Saz Adaï. Wer es sich mit ihr nicht verderben will, wird dich ignorieren, zumindest in der Öffentlichkeit. Komm nach dem Essen in den Obstgarten, ich werde auch da sein.«
In der restlichen Zeit richtete niemand mehr das Wort an Lara. Als alle aufgegessen hatten, erhob sie sich und brachte ihre schmutzige Serviette in die im Außenbereich liegende Küche. Danach machte sie sich auf die Suche nach dem Obstgarten, den sie bald schon fand, ohne jemanden nach dem Weg fragen zu müssen. Dort wartete bereits ihr Tischnachbar, der unter einem Baum auf dem Boden saß.
»Du bist also die Lara, der dieser Skandal anhängt«, empfing er sie.
»Aber was habe ich denn Schlimmes getan?«, erwiderte Lara. »Ist es nicht ein bisschen übertrieben, daraus gleich so eine Geschichte zu machen und sie an die große Glocke zu hängen? Alle haben Asix-Freunde.«
»Die Saz Adaï ist sehr traditionsbewusst und hat die Entscheidung gebilligt, dich bis zu deiner Volljährigkeit bei deiner Pflegemutter wohnen zu lassen«, sagte der Junge. »Allerdings ist sie davon überzeugt, dass es nur eine Möglichkeit gibt, den Charakter eines Menschen zu festigen und zu stählen, und zwar, indem man einen Shiro-Tutor aus einem anderen Clan hat.« Er verzog
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