Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
zweimal, dreimal. Laras Kopf wurde nach rechts geschleudert, nach links, denn wieder nach rechts. Dieses Mal blieb ihr Gesicht völlig ausdruckslos. Dann verbeugte sie sich erneut so tief, dass ihre Stirn den Boden berührte.
»Ich bitte um Vergebung, Ehrenwerte Mutter.«
»Wie alt bist du?«
»Ich habe sechs Trockenzeiten erlebt.«
»Du musst zu Beginn der Regenzeit in das Haus des Clans eintreten, wenn du die Volljährigkeitsprüfung bestanden hast. Aber du wirst dich sofort hierherbegeben.«
»Ja, Ehrenwerte Mutter. Darf ich meine Sachen holen?«
»Was für Sachen? Die Bücher sind in der Schule. Und was die Kleidung betrifft, kannst du dir im Geschäft des Clans Sachen zum Wechseln besorgen.«
Lara verspürte einen Stich im Herzen, weil sie ihre persönlicheHabe aufgeben sollte: die Muschelschale, die Tarr ihr vom südlichen Meer mitgebracht hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, und den kleinen Hund aus Holz, den er für sie geschnitzt hatte. Sie wusste, dass es sinnlos war, die Matriarchin um Erlaubnis zu fragen, sich von Dol, Tarr und den Kindern verabschieden zu dürfen, mit denen sie bis zu diesem Tag aufgewachsen war. Sie versuchte es dennoch.
»Darf ich eine Bitte äußern, Saz Adaï?«
»Nein, darfst du nicht. Du kannst gehen.«
Lara verbeugte sich, bedankte sich bei der Alten respektvoll für die Ehre, sie empfangen zu haben, und ging nach einem letzten Knicks hinaus.
Draußen wandte sie sich an einen jungen Mann – er war der Verwalter des Hauses –, der ebenfalls darauf wartete, empfangen zu werden. Als sie die nötige Auskunft erhalten hatte, machte sie sich auf die Suche nach Velhojori. Innerhalb des Clans wurden alle mit ihrem eigenen Namen angesprochen, weil Vater- und Muttername für alle gleich waren, da es sich um die Namen der beiden Gründer des Clans handelte.
Lara traf Velhojori im Verwaltungsbüro an, umgeben von Listen, Verzeichnissen und Dosen mit Videobändern. Er machte nicht den Eindruck, als sei er sehr beschäftigt. Trotzdem versuchte er demonstrativ den Eindruck zu vermitteln, dass man ihn bei einer sehr wichtigen Sache gestört habe. Gereizt seufzte er auf, wühlte in den Papieren, die vor ihm lagen, und schaute Lara stirnrunzelnd an. Er wirkte auf sie genauso kalt und zugeknöpft wie die Matriarchin, und Lara dachte mit Bedauern an die vergangenen Jahre mit Dol zurück. Sicher, Dol war dumm und chaotisch, aber sie konnte wenigstens sehr liebevoll sein. Bei ihr hatte man nie das Gefühl – wie bei den meisten Shiro –, sie hätte einen Säbel verschluckt.
»Velhojori Adaï«, sagte Lara respektvoll. »Ich habe die Anweisung, mich in das Haus des Clans zu begeben. Mein Name ist Lara Huang to Narufeni, Tochter von ...«
»Lara? Ist das nicht ein Name für eine Asix?«
Als hätte er nicht bemerkt, dass ich lange Haare trage, dachtesie ein wenig verärgert. Mit fester Stimme antwortete sie: »Das ist mein Kindername, Herr, ich habe die Volljährigkeitsprüfungen noch nicht absolviert.«
Der Mann stöhnte. Er wollte ihr damit zu verstehen geben, dass er Heranwachsende noch nicht als würdig erachtete, sich überhaupt mit ihnen zu beschäftigen.
»Weshalb musst du denn hierherziehen?«
»Auf Anweisung der Matriarchin.«
»Du kennst den wirklichen Grund also nicht.«
Lara spürte, dass ihre Selbstbeherrschung zu zerbröckeln drohte, also antwortete sie heuchlerisch und blickte dabei fest nach rechts, statt den Mann anzuschauen:
»Es obliegt mir nicht, die an mich gerichteten Anweisungen zu hinterfragen und die Gründe dafür zu suchen. Meine Pflicht besteht darin, diesen zu gehorchen.«
Wieder stöhnte der Verwalter auf, um auf diese Weise seine Missbilligung zum Ausdruck zu bringen. Trotzdem: Er konnte Lara nicht bestrafen, da sie nichts ausdrücklich Falsches gesagt hatte.
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ihn Lara. Er wirkte durch und durch unsympathisch auf sie. In Gedanken sprach sie noch einmal seinen Namen: Velhojori. Das hieß »der alte Jori«. Früher hatte er sich bestimmt einfach nur Jori genannt. Jori war ein weit verbreiteter Name; auch Laras biologischer Vater hatte diesen Namen getragen. Vielleicht war er es ja? Nein, sicher nicht. Er wirkte nicht so, als wäre er in den Clan der Huang eingetreten. Und überhaupt – das Ganze hatte keine Bedeutung.
Lara fragte sich, ob der Alte vielleicht wusste, weshalb sie so plötzlich ihre Pflegemutter verlassen musste. Das war nicht ausgeschlossen, denn innerhalb des Clan-Hauses
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