Das Gesicht der Anderen
zuckte die Schultern. “Wer auch immer es war, er oder sie hat mir einen Gefallen getan. Durch diese Aktion habe ich endlich die Wahrheit erfahren, die mir meine Mutter und mein Großvater die ganze Zeit vorenthalten haben.”
“Urteile nicht so hart über die beiden. Du weißt, dass sie das nur getan haben, um dich zu schützen.”
“Sie würden Ihr Kind nie belügen”, meinte sie.
“Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich wüsste nicht, was ich tun würde, zu welchen Tricks oder Lügen ich greifen würde, wenn ich mein Kind vor etwas beschützen wollte, das ihm großen Schaden zufügen könnte.”
“Wie zum Beispiel die Tatsache, dass der eigene Vater ein Vergewaltiger, Folterer und mehrfacher Mörder war.”
Wenn er Leslie Anne ansah, sah er Amy. Amy, jung und schön und lebendig. Er versuchte, die Vorstellung abzuschütteln, dass es eine Verbindung zwischen ihr und Leslie Anne gab. Es gelang ihm nicht. Aber es musste einen Grund geben – das konnte nicht bloß ein Zufall sein. Amy war vor siebzehn Jahren gestorben. Sie konnte also keine Tochter haben, die erst sechzehn war. Und falls Amy wunderbarerweise noch am Leben wäre und ein Kind hätte, konnte nicht Leslie Anne dieses Kind sein. Außer, Tessa wäre gar nicht Leslie Annes Mutter.
Vielleicht kannte Tessa die volle Wahrheit gar nicht. Vielleicht war Tessas Kind bei der Geburt gestorben und G. W. hatte dafür gesorgt, dass man ihr ein anderes Baby gab. Oder vielleicht waren die Kinder im Krankenhaus vertauscht worden.
Jetzt fängst du schon wieder damit an, ärgerte sich Dante. Das sind doch alles völlig unrealistische Szenarien. Lächerlich. Schwachsinnig.
“Warum starren Sie mich so an?”, fragte Leslie Anne.
Dante räusperte sich. “Entschuldige. Du erinnerst mich an jemanden, den ich mal kannte.”
“Wirklich? An wen denn?”
“An ein Mädchen, das Amy hieß.”
“War das Ihre Freundin?”
“Ja.”
“Haben Sie jetzt eine Freundin?”
“Nein, im Moment nicht.”
“Meine Mutter hat auch keinen Freund.”
“Ach nein?” Dante ahnte die Richtung, die das Gespräch gleich nehmen würde. Wie sollte er es abbiegen, ohne Leslie Anne zu verletzen?
“Ich glaube, sie mag Sie.”
“Ich mag sie auch, aber …”
“Aber Sie wollen nicht mit einer Frau ausgehen, deren Tochter das Kind von Eddie Jay Nealy ist. Das ist es doch, oder?”
“Nein, das ist es nicht. Du versuchst mir etwas unterzuschieben.”
“Warum interessieren Sie sich dann nicht für meine Mutter? Sie ist intelligent und schön. Und sie ist wirklich eine tolle Mutter.”
Wie konnte dieses Mädchen nur Eddie Jay Nealys Kind sein? Es erschien unmöglich. Dante hatte die Bilder des Mannes studiert und nach irgendeiner Ähnlichkeit mit Leslie Anne gesucht. Es gab keine. Leslie Anne sah dem Mann kein bisschen ähnlich. Aber sie sah auch Tessa nicht wirklich ähnlich, außer dass sie blonde Haare hatte.
Leslie Anne Westbrook sah nur einer anderen Person wirklich ähnlich – Amy Smith.
12. KAPITEL
A ls Dante in einer Nische in einer ruhigen Ecke des Restaurants Platz nahm, in dem er sich mit seinen Kollegen von Dundee traf, dachte er immer noch an Leslie Anne. Er hatte vorgehabt, ihr zu sagen, dass ein anderer Agent als Mittelsmann der Detektei zu ihnen käme, weil er im Feld arbeiten würde. Aber dann hatte er in letzter Minute seine Meinung geändert und beschlossen, Tessa diese unangenehme Aufgabe zu überlassen. Sie war schließlich ihre Mutter und konnte mit Leslie Anne sicher besser umgehen als er. Außerdem war es auch so: Je weniger Zeit er mit Leslie Anne Westbrook verbrachte, desto besser.
Und was, wenn Leslie Anne nicht Tessas Tochter ist?
Dieser eine Gedanke quälte ihn beinahe so sehr wie die Tatsache, dass Amy tot war und nie mehr zu ihm zurückkehren würde. Doch jetzt war da dieses Mädchen, das aussah wie Amy. Das konnte doch nicht bloß ein seltsamer Zufall sein! Vielleicht machte er sich aber auch nur etwas vor und das Mädchen sah Amy gar nicht so ähnlich, wie er meinte?
Er musste eine unvoreingenommene Meinung hören. Darum hatte er Lucie gebeten, etwas früher zu ihrem Treffen zu erscheinen. Sie war eine der wenigen Frauen, die ein rationales Urteilsvermögen besaßen und logisch denken konnten.
Dante beobachtete, wie die Restaurantleiterin Lucie zeigte, an welchem Tisch er wartete. Er winkte ihr zu, stand auf und wartete, bis sie an den Tisch gekommen war.
“Danke, dass du gekommen bist”, sagte er.
“Kein Thema. Worum geht's denn?
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