Das Gesicht der Anderen
zweimal angehalten. Einmal unten beim Fluss, um die Pferde trinken zu lassen, und dann bei ihrem Baumhaus, das ihr Großvater ihr zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt hatte.
“Ich weiß nicht, wer das Baumhaus toller fand – ich oder Großvater”, hatte Leslie Anne Lucie erzählt. “Eustacia hat uns oft ein Picknick zurechtgemacht, und dann saßen wir beide oben im Baumhaus und aßen unsere Gelee- und Erdnussbutterbrote und tranken Kakao aus der Thermosflasche.”
“Klingt nach einer tollen Kindheit.”
“Oh ja. Dafür haben Mama und Großvater gesorgt.”
“Du benutzt das Baumhaus immer noch.”
“Woher weißt du das?”, fragte Leslie Anne kichernd. “Immer wenn ich allein sein will, ziehe ich mich dorthin zurück. Stundenlang.”
Nachdem sie Passion Flower und Mr. Wonderful versorgt hatten, führte Luther die beiden Pferde zurück in den Stall. “Sie sollten besser schnell zurückgehen”, sagte er. “Es wird bald dunkel, und Miss Sharon wartet sicher schon mit dem Essen auf Sie.”
“Du klingst ja wie eine Glucke”, sagte Leslie Anne im Scherz. “Hast du dir etwa auch meinetwegen Sorgen gemacht?”
Luther grinste. “Ich weiß nur, dass man den Menschen, die einen lieben, keine Sorgen machen sollte.”
“Da hast du recht, Luther”, sagte Leslie Anne und klopfte ihm auf die Schulter. Sie sah Lucie an. “Wer schneller beim Haus ist?”
“Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du schneller bist als ich?”, sagte Lucie.
“Das werden wir ja sehen!”
“Wenn du unbedingt verlieren willst, gerne. Soll ich dir einen Vorsprung lassen?”
“Bestimmt nicht”, sagte Leslie Anne. “Ich werde dich haushoch schlagen.”
Luther trat zur Seite, als Leslie Anne und Lucie gleichzeitig von drei rückwärts zählten. Wie zwei Tornados rasten sie aus dem Stall und den Weg zur Villa hinauf. Leslie Anne konnte bis zur Hälfte mit Lucie mithalten, dann ging ihr die Puste aus, und sie hatte Schwierigkeiten, Lucie zu folgen.
“Leslie Anne?”, rief da eine Stimme aus dem Wald.
Das bildest du dir nur ein, sagte sich Leslie Anne und rannte weiter.
“Leslie Anne!”
Hör nicht hin. Da ist niemand.
Obwohl sie ihren Schritt beschleunigte, um Lucie noch einzuholen, schaute Leslie Anne sich nach rechts und links um auf der Suche nach der Stimme, die sie sich hoffentlich nur einbildete. Doch insgeheim ahnte sie schon, welche vier Worte sie gleich hören würde.
Wer ist dein Vater?
Verschwitzt und außer Atem erreichte Lucie die hintere Veranda der Villa. Sie dehnte sich und wartete auf Leslie Anne. Als mehrere Minuten vergingen, ohne dass Leslie Anne auftauchte, beschlich sie ein ungutes Gefühl. So weit war sie doch gar nicht hinter ihr gewesen. Wo zum Teufel blieb sie also? Sie wartete noch eine Weile. Nichts. Lucie bekam Angst.
Sie rannte den Weg zurück und rief dabei immer wieder Leslie Annes Namen. Sie betete, dass dem Mädchen, auf das sie hatte aufpassen sollen, nichts zugestoßen war.
17. KAPITEL
A ls sie wieder im Motel waren, blieb Dante vor Tessas Zimmertür stehen und wollte ihr nur die Tür aufschließen. Doch sie packte sein Handgelenk und hielt es fest.
“Komm doch mit rein”, sagte sie.
Er sah ihr in die Augen, die so herrlich blau waren wie die seiner geliebten Amy, und plötzlich übermannte ihn das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und nie wieder loszulassen. Aber Tessa war nicht Amy, egal, wie sehr sie ihn an seine ehemalige Verlobte erinnerte, und egal, wie sehr er sich das einerseits wünschte. “Ich bin momentan keine gute Gesellschaft.”
“Ich suche nicht nach guter Gesellschaft”, antwortete sie. “Ich möchte einfach nicht allein sein, und du, glaube ich, auch nicht.”
Er streichelte mit dem Handrücken ihre Wange. “Du musst das nicht tun. Nicht du bist für meinen Zustand verantwortlich. Und ich bin so kurz davor …”, er machte eine entsprechende Geste mit Daumen und Zeigefinger, “… zusammenzuklappen.”
Das zuzugeben war nicht leicht für Dante, aber er wollte vermeiden, dass Tessa diesen Zusammenbruch miterlebte. Er litt mehr als je zuvor in seinem Leben, mehr noch als damals, als Amy verschwunden war. Damals war er eher verzweifelt gewesen und hatte wochen- und monatelang die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er sie doch noch eines Tages lebend wiedersehen würde.
Und selbst später, als er von Eddie Jay Nealy erfuhr und seiner Vorliebe für junge blonde Frauen, hatte er sich einzureden versucht, dass Amy nicht zu seinen Opfern gehörte.
Weitere Kostenlose Bücher