Das Gesicht der Anderen
Irgendwann war es dann so weit gewesen: Er hatte es sich eingestehen können, dass Amy vermutlich tot war, umgebracht von Nealy. Und trotzdem hatte er sich in seinem Innersten immer ein letztes Fünkchen Hoffnung aufbewahrt.
Und heute, als er vor dem Marmorgrabstein niederkniete, war dieses letzte Fünkchen Hoffnung endgültig verschwunden.
Tessa nahm Dantes Hand. Er schloss seine Finger um ihre und drückte sie. Sie führte seine Hand langsam zu ihren Lippen und küsste seine Fingerknöchel. Sein Herz erbebte. Trauer und Verzweiflung mischten sich mit dem Bedürfnis nach Trost.
“Du solltest jetzt nicht allein sein”, sagte sie und sah ihm dabei immer noch in die Augen.
“Ich weiß, du bist eine starke Frau, Tessa”, sagte er, “und Gott weiß, dass ich dich brauche, aber …”
Sie legte die Finger auf seine Lippen. “Komm einfach rein, setz dich zu mir und erzähl mir von Amy. Wie ihr euch kennengelernt und verliebt habt.”
Auf einmal hatte er einen Kloß im Hals, an dem er fast zu ersticken drohte. In seinem Innern weinte er – und diese Tränen drängten plötzlich nach draußen. Er wollte Tessas Angebot abschlagen, denn er wollte vor ihr nicht sein Innerstes nach außen kehren. Er konnte nicht mit ihr über Amy sprechen, konnte Tessa nicht erklären, wie es war, jemanden mehr als sein eigenes Leben zu lieben. Er hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen, wie sehr er Amy nachtrauerte, und dass er mit jedem Atemzug, den er tat, an sie dachte und sie vermisste. Ihr süßes Lächeln. Der Klang ihres Lachens. Der Geruch ihrer Haut. Die Art, wie sie sich an ihn schmiegte, wenn sie miteinander geschlafen hatten. Ihre Stimme, wenn sie seinen Namen flüsterte.
Wie oft hatte er ihre Stimme gehört, ihr Flehen, er möge sie finden und nie aufhören, sie zu lieben!
Ich liebe dich immer noch, Amy. Ich liebe dich immer noch.
“Ich kann nicht”, sagte Dante. “Du willst das nicht.”
Tessa nahm ihm die Zimmerkarte aus der Hand und schloss ihre Tür auf. Dann nahm sie ihn bei der Hand. Dante sah sie an und schüttelte den Kopf. Sie ignorierte ihn und manövrierte ihn in ihr Zimmer. Er folgte ihr wie in Trance zu einem der beiden Doppelbetten. Sie nahm ihn bei den Schultern und drückte ihn sanft auf die Bettkante. Dann setzte sie sich neben ihn.
Tessa schlüpfte aus ihrem Mantel und warf ihn auf einen Stuhl, dann zog sie Dante seine Lederjacke aus und schleuderte sie über denselben Stuhl.
Da saß er nun traurig und wünschte sich, er könne die Zeit zurückdrehen. Aber es war nicht zu ändern. Er würde Amy nie mehr wiedersehen, sie niemals mehr im Arm halten, sie küssen, sie lieben. Es war endgültig vorbei.
In den letzten siebzehn Jahren hatte er sich beinahe täglich gesagt: Du schaffst es. Noch ein Tag, und dann hast du es überstanden. Aber es hatte nichts gebracht. Er wachte immer noch jeden Morgen auf und vermisste Amy.
Tessa nahm jetzt wieder seine Hand – es war eine zärtliche Berührung. Dante spürte ihre Wärme und ihre Fürsorge. Er drehte sich zu ihr und sah für den Bruchteil einer Sekunde nicht die 35jährige Tessa Westbrook dort neben ihm sitzen, sondern die 17jährige Amy Smith. In ihren Augen brannte Liebe – die Liebe zu ihm.
“Amy?”
Um Himmels willen! Was hatte er da gerade gesagt?
“Es tut mir leid. Ich …” Dante verbarg das Gesicht in den Händen.
Tessa stiegen Tränen in die Augen. “Schon in Ordnung. Das macht nichts.”
“Tessa, ich will dich nicht verletzen. Du darfst nicht zulassen …”
“Bitte … Ich möchte dir helfen. Erzähl mir von Amy. Du hast doch wahrscheinlich noch nie mit jemandem darüber gesprochen?”
Jetzt liefen Tessa die Tränen übers Gesicht und tropften auf Dantes Hände.
“Wein doch nicht, Liebling”, sagte Dante. “Es bricht mir das Herz, wenn du deine Tränen für mich vergießt.”
“Dann weine selbst! Weine um dich und um Amy. Weine um das, was du nie haben wirst, um das Leben mit ihr, weine um deine verlorene Liebe.”
Ihre Worte schnitten ihm wie Rasierklingen ins Herz und berührten ihn tief in seiner Seele. Wie von Sinnen sprang er auf und riss sich von ihr los.
Er war schon halb durch die Tür, als sie rief: “Du kannst nicht für immer davonlaufen. Amy ist tot. Sie ist seit siebzehn Jahren tot. Aber du bist am Leben, Dante!” Er spürte sie, noch bevor sie seinen Rücken berührte. “Du bist am Leben. Amy würde ganz sicher wollen, dass du dein Leben genießt! Dass du frei bist, zu lieben und zu leben
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