Das Gesicht des Drachen
Rückenmarksverletzung an allen Fronten an. Zunächst setzen wir die herkömmliche Operationsmethode zur Druckentlastung ein, um die Knochenstruktur des Wirbels zu rekonstruieren und die geschädigte Stelle zu schützen. Dann injizieren wir dort zweierlei. Einerseits peripheres Nervengewebe des Patienten. Zum anderen Frischzellen aus dem zentralen Nervensystem gewisser Embryonen.
»Hai-Embryonen«, fügte Rhyme für Sonny Li hinzu.
Der Cop lachte. »Von einem Fisch?«
»Genau. Haigewebe ist für Menschen verträglicher als das Gewebe anderer Tiere. Und nach dem Eingriff muss ich Medikamente einnehmen, um die Regeneration des Rückenmarks zu unterstützen.«
»He, Loaban«, sagte Li und sah ihn nachdenklich an. »Ist diese Operation gefährlich?«
Und wieder hörte Rhyme die Stimme von Dr. Weaver.
Natürlich gibt es Risiken. Die Medikamente an sich sind nicht besonders gefährlich, aber der eigentliche Eingriff könnte Probleme bereiten. Bei jedem C4-Querschnittsgelähmten kommt es zu einer Beeinträchtigung der Lungentätigkeit. Normalerweise brauchen Sie nicht mehr künstlich beatmet zu werden, doch durch das Anästhetikum besteht die Gefahr einer respiratorischen Insuffizienz. Der Stress bei dem Eingriff könnte zu einer autonomen Dysregulation führen, und der daraus resultierende hohe Anstieg des Blutdrucks - damit sind Sie sicher vertraut - würde womöglich einen Schlaganfall oder ein anderes zerebrales Ereignis nach sich ziehen. Ferner können wir nicht ausschließen, dass an der betroffenen Stelle ein Trauma entsteht- Sie haben derzeit weder Zysten noch Shunts, aber durch die Operation und die sich daraus ergebende Flüssigkeitsbildung könnte der Druck zunehmen und weitere Schäden verursachen.
»Ja, sie ist gefährlich«, sagte Rhyme.
»Das klingt für mich nach >yi luan tou shi<.«
»Und das bedeutet?«
Li überlegte kurz. »Wörtlich heißt es >Eier gegen Felsen werfen<. Damit bezeichnet man bei uns ein aussichtsloses Vorhaben. Weshalb wollen Sie sich also operieren lassen?«
Für Rhyme lag die Antwort auf der Hand. Um ein kleines bisschen unabhängiger zu werden. Um vielleicht in der Lage zu sein, beispielsweise dieses Glas zu nehmen und an den Mund zu heben. Um sich am Kopf zu kratzen. Um normaler zu werden - wenngleich dieses Wort unter Behinderten als politisch inkorrekt galt. Um Amelia Sachs näher zu sein. Um dem Kind, das Sachs sich so sehr wünschte, ein besserer Vater sein zu können.
»Ich muss es einfach tun, Sonny«, sagte er. Dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf die Flasche Macallan-Scotch. »Und jetzt probieren wir meinen baifu.«
Li lachte auf. »Baijiu, Loaban. Sie haben gerade gesagt Jetzt probieren wir mein Kaufhaus.«
»Baijiu«, korrigierte Rhyme sich.
Li schenkte ihnen beiden von dem alten Whisky ein.
Rhyme trank einen kleinen Schluck durch den Strohhalm. O ja, viel besser.
Li kippte seinen vollen Becher auf einmal hinunter. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich meine, Sie sollten diese Operation nicht durchführen lassen.«
»Ich habe die Risiken abgewogen und.«
»Nein, nein. Nehmen Sie sich selbst an! Akzeptieren Sie Ihre Einschränkungen!«
»Aber warum? Wenn ich es nicht muss?«
»Ich sehe doch all diesen Wissenschaftsscheiß, den ihr hier in Mei Guo habt. Bei uns in China ist das längst nicht so schlimm. Oh, in Peking, Hongkong, Guangdong oder Fuzhou - sicher, na klar, da haben wir das meiste von dem, was es auch hier gibt. Dank unserem Großen Vorsitzenden Mao hinken wir zwar noch ein wenig hinterher, aber wir haben Computer, wir haben das Internet, und wir haben Raketen ja, manchmal explodieren sie, aber für gewöhnlich schaffen sie es bis in den Weltraum. Unsere Ärzte arbeiten anders, sie brauchen nicht so viel Wissenschaft. Sie sorgen in unseren Körpern für Harmonie. In China sind Doktoren keine Götter.«
»Bei uns sieht man das anders.«
»Ja, ja«, spottete Li. »Ärzte lassen dich jünger aussehen. Geben dir deine Haare zurück. Verschaffen den Frauen größere xiong, Sie wissen schon..« Er wies auf seine Brust. »Wir können das nicht verstehen. Es ist nicht harmonisch.«
»Glauben Sie etwa, dieser Zustand wäre für mich harmonisch!«, fragte Rhyme aufgebracht.
»Das Schicksal hat Ihnen diesen Zustand beschert, Loaban . Und es ist nicht zufällig geschehen. Vielleicht sind Sie nur deswegen ein so guter Ermittler, weil Sie diesen Unfall erlitten haben. Ihr Leben ist jetzt ausgeglichen, würde ich sagen.«
Rhyme musste lachen. »Ich
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