Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
Vom Netzwerk:
verschwand, und sie wurde tatsächlich ernst. Durch das halb geöffnete Fenster wehte eine leichte Sommerbrise herein, zerzauste ihr das offene rote Haar und ließ die blütenweißen Laken ihres Vaters erzittern, während sie beide dort an diesem schwierigen Ort saßen.
    »Rede weiter«, sagte sie.
    »Danke. Ich höre also, wie du deinen Job erledigst. Du gibst nicht genug auf dich Acht. Aber das musst du, Amie.«
    »Wie kommst du darauf, Paps?«
    Sie beide wussten, dass es an dem Krebs lag, der ihn bald umbringen würde, und an dem dringenden Bedürfnis, seinem einzigen Kind etwas Wesentlicheres zu hinterlassen als eine Dienstmarke, einen vernickelten Colt und einen alten Dodge Charger, dessen Getriebe und Zylinderkopf ausgetauscht werden mussten. Aber er blieb seiner Rolle als Vater treu und sagte nur: »Tu einem alten Mann den Gefallen.«
    »Wenn du unbedingt willst.« »Weißt du noch, wann du zum ersten Mal geflogen bist?«
    »Wir haben Grandma Sachs in Florida besucht. Es war unglaublich heiß, und ein Chamäleon ist auf mich losgegangen.«
    Herman Sachs fuhr unbeirrt fort. »Und die Stewardess - oder wie auch immer man die heutzutage nennt - hat gesagt: >Im Notfall zuerst die eigene Sauerstoffmaske aufsetzen und dann den anderen helfen.< So lautet die Regel.«
    »Ja, ich weiß«, räumte sie ein und musste gegen ihre Gefühle ankämpfen.
    Der alte Cop, dessen Handflächen an manchen Stellen dauerhaft von Achsfett verfärbt waren, sprach weiter. »Und genau das muss die Philosophie jedes Streifenbeamten im Einsatz sein. Erst du, dann das Opfer. Im Privatleben gilt das Gleiche. Was auch immer erforderlich sein mag, du musst dich zunächst um dich selbst kümmern. Falls du nicht mit dir im Reinen bist, wirst du auch nie für einen anderen da sein können.«
    Während Amelia nun durch den Nieselregen fuhr, wurde die Stimme ihres Vaters immer leiser und schließlich durch eine andere ersetzt. Die des Arztes vor einigen Wochen.
    »Ah, Miss Sachs. Hier stecken Sie also.
    »Hallo, Doktor.«
    »Ich habe gerade mit Lincoln Rhymes Arzt gesprochen.«
    »Ja?«
    »Und jetzt muss ich unbedingt mit Ihnen reden.«
    »Das klingt nach schlechten Neuigkeiten, Doktor.«
    »Wollen wir uns nicht da drüben in die Ecke setzen?«
    »Nein, es geht schon. Raus mit der Sprache. Was ist los?«
    Ihre ganze Welt war in Aufruhr, all ihre Zukunftspläne hatten sich plötzlich geändert.
    Was konnte sie tun?
    Tja, zum Beispiel das hier, dachte sie und hielt am Straßenrand.
    Dort blieb sie eine Weile sitzen. Das ist verrückt, dachte sie. Aber dann gab sie ihrem Impuls nach, stieg aus, ging mit gesenktem Kopf schnell um die Ecke und betrat ein Wohnhaus. Sie folgte der Treppe in den ersten Stock. Und klopfte an die Tür.
    Die Tür öffnete sich, und Amelia lächelte John Sung an. Er erwiderte das Lächeln und bat sie mit einem Nicken herein.
    Was auch immer erforderlich sein mag, du musst dich zunächst um dich selbst kümmern. Falls du nicht mit dir im Reinen bist, wirst du auch nie für einen anderen da sein können...
    Auf einmal hatte sie das Gefühl, eine große Last würde ihr von den Schultern genommen.
     
     
    ... Neunundzwanzig
    Mitternacht.
    - Doch ungeachtet des anstrengenden Tages, der ihn von einem sinkenden Schiff in ein Haus am Central Park West geführt hatte noch dazu eine halbe Weltreise von seiner Heimat entfernt -, wirkte Sonny Li überhaupt nicht müde.
    Er betrat Lincoln Rhymes Schlafzimmer und brachte eine Einkaufstüte mit. »Als ich mit Hongse vorhin in Chinatown war, habe ich ein paar Sachen gekauft, Loaban. Ich habe ein Geschenk für Sie.«
    »Ein Geschenk?«, fragte Rhyme von seinem Thron aus, dem neuen Hill-Rom Flexicair Bett, das - wie man ihm versichert hatte - ganz außerordentlich bequem war.
    Li entnahm der Tüte einen kleinen, in Papier eingerollten Gegenstand und wickelte ihn aus. »Schauen Sie mal, was ich hier habe.« Er hielt die Jadestatuette eines grimmig blickenden Mannes mit Pfeil und Bogen hoch. Li sah sich im Zimmer um. »Wo ist Norden?«
    »Da entlang.« Rhyme nickte in die entsprechende Richtung.
    Li stellte die Statuette auf einen Tisch an der Wand. Dann ging er zu seiner Tüte zurück und holte ein paar Weihrauchstäbchen daraus hervor.
    »Sie wollen das Zeug doch nicht etwa hier drinnen verbrennen?«
    »Das muss so sein, Loaban. Es wird Sie nicht umbringen.«
    Li hatte zwar behauptet, Chinesen würden nur ungern nein sagen, schien diesen Charakterzug aber nicht mit seinen Landsleuten zu

Weitere Kostenlose Bücher