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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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verkaufen und zur Installation russische Techniker ins Land zu holen. Alles sprach dafür, dass seine Anstrengungen die Skylines von China verändern und ihn selbst noch wohlhabender machen würden, als er ohnehin schon war.
    Was sollte schief gehen? Er trug die konformistische Einheitskleidung, nahm so oft wie möglich an den Kundgebungen der KPC teil, hatte im gesamten Südosten guanxi und gehörte einer der erfolgreichsten Kooperativen Fujians an, dank derer ein Strom von Yuans nach Peking floss.
    Doch seine Karriere war zum Scheitern verurteilt, und zwar aus einem einfachen Grund: Es gab in China einen achtbaren, humorlosen Exsoldaten und Politiker namens Mao Tsetung, der 1966 aus einer Laune heraus die Kulturrevolution einleitete und Studenten im ganzen Land dazu anstachelte, sich zu erheben, um die »Vier Alten« zu zerstören: alte Kultur, alte Bräuche, alte Denkmuster und alte Gewohnheiten.
    Das Haus von Kwan Baba, gelegen in einem eleganten Viertel Fuzhous, gehörte zu den ersten Zielen der wütenden jungen Männer, die angesichts des Befehls aus dem Mund des Großen Steuermanns praktisch zitternd vor Idealismus auf die Straße gingen.
    »Du bist Teil des Althergebrachten«, brüllte der Anführer. »Bereust du? Gestehst du, dass du ein Verfechter der alten Werte bist?«
    Der Vater des Geists hatte die Leute in seinem Wohnzimmer empfangen, das plötzlich auf die Größe einer Gefängniszelle geschrumpft zu sein schien, weil eine Horde schreiender Jugendlicher die Familie umringte. Sein Blick verriet nicht nur Angst, sondern auch Verwirrung, weil er wirklich nicht begriff, was er denn Böses getan haben sollte.
    »Gestehe und strebe nach Umerziehung, dann werden wir dich verschonen!«, kreischte ein anderer.
    »Du stehst für altes Denken, alte Werte, alte Kultur.«
    »Du hast auf dem Rücken des Volkes ein Lakaienimperium errichtet!«
    In Wahrheit hatten die Studenten nicht die geringste Ahnung, womit Kwan Baba seinen Lebensunterhalt verdiente oder ob die Kooperative, der er vorstand, auf dem reinen Kapitalismusprinzip eines J. P. Morgan oder dem marxistisch-leninistisch- maoistischen Kommunismus basierte. Sie wussten lediglich, dass sein Haus schöner war als ihres und dass er es sich leisten konnte, Kunstwerke aus der verabscheuten »alten« Zeit zu erwerben - Kunstwerke, die nichts dazu beitrugen, den Kampf des Volkes gegen die tyrannischen Westmächte zu befördern.
    Kwan, seine Frau, der zwölfjährige Ang und sein älterer Bruder standen der brodelnden Menge fassungslos gegenüber.
    »Du bist Teil des Althergebrachten..«
    Für den kleinen Ang verschwammen die meisten Ereignisse dieser Nacht zu einem furchtbaren, verworrenen Durcheinander.
    Eines jedoch hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt, und er musste nun daran denken, während er hier in seinem luxuriösen Wolkenkratzerdomizil oberhalb des Hafens auf den Verräter der Changs wartete.
    Der hoch gewachsene Kaderführer der Studenten stand in der Mitte des Wohnzimmers. Er trug eine schwarz geränderte Brille, die ihm leicht schief auf der Nase saß, weil sie aus der Produktion eines der örtlichen Kollektive stammte. Speicheltropfen flogen ihm aus dem Mund, während er zornig auf den kleinen Kwan Ang einschrie, der unterwürfig neben dem nierenförmigen Kaffeetisch kauerte, an dem sein Vater ihn einige Jahre zuvor in der Handhabung des Abakus unterwiesen hatte.
    »Du bist Teil des Althergebrachten«, brüllte der Student dem Jungen ins Gesicht. »Bereust du?« Zur Betonung seiner Worte ließ er bei jedem Satz einen dicken Knüppel, schwer wie ein Kricketschläger, zwischen ihnen herabsausen, der mit einem lauten, dumpfen Geräusch aufprallte.
    »Ja, ich bereue«, sagte der Junge ruhig. »Ich bitte das Volk um Vergebung.«
    »Du wirst deinen dekadenten Lebenswandel ändern.«
    Rums.
    »Ja, ich werde mich ändern«, sagte er, obwohl er nicht wusste, was »dekadent« bedeutete. »Die alten Bräuche sind eine Gefahr für das Gemeinwohl des Volkes.«
    »Falls du an deinen alten Überzeugungen festhältst, wirst du sterben!«
    Rums.
    »Ich wende mich von ihnen ab.«
    Rums, rums, rums ...
    So ging es endlose Minuten weiter - bis die Schläge, die der Student mit der Eisenspitze des Knüppels austeilte, schließlich auch noch das letzte Fünkchen Leben aus den Eltern des Geists geprügelt hatten, die gefesselt und geknebelt zu seinen Füßen lagen.
    Der Junge würdigte die blutigen Gestalten keines einzigen Blicks, sondern rezitierte den Katechismus,

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