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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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seinem Versteck aus nicht mehr aus den Augen gelassen hatte, seit sie vor mehr als einer Stunde am Strand eingetroffen war.
    Genau genommen war sie gar nicht sein Typ. Er machte sich nichts aus westlichen Frauen, zumindest nicht aus denjenigen, die er in Fuzhou gesehen hatte. Die hingen nämlich entweder am Arm eines reichen Geschäftsmannes (groß und schön, mit verächtlichen Blicken für all die Chinesen, die sie anstarrten) oder waren Touristinnen in Begleitung ihrer Ehemänner und Kinder (schlecht gekleidet, mit verächtlichen Blicken für Chinesen, die auf den Bürgersteig spuckten, und für die Radfahrer, die sie niemals ungehindert über die Straße ließen).
    Die Frau dort drüben aber faszinierte ihn. Anfangs hatte er nicht begriffen, was sie hier wollte; sie war einfach in ihrem leuchtend gelben Wagen vorgefahren und wurde von einem Soldaten mit Maschinenpistole begleitet. Dann hatte sie sich umgedreht, und er hatte auf ihrer Jacke die Buchstaben NYPD erkannt. Demnach gehörte sie zu den Sicherheitsbehörden. Später war sie auf die Suche nach Überlebenden und Spuren gegangen.
    Sexy, hatte er bei sich gedacht, obwohl er eigentlich mehr auf stille, elegante Chinesinnen stand.
    Und dieses Haar! Welch eine Farbe! Es veranlasste ihn, der Fremden einen Spitznamen zu geben: »Hongse«, das chinesische Wort für »Rot«.
    Ein gelber Krankenwagen raste in ihre Richtung. Als er auf einen kleinen Parkplatz einbog und anhielt, robbte Li zum Straßenrand. Natürlich bestand die Chance, dass man ihn entdeckte, aber er musste jetzt handeln, bevor die Frau zurückkehrte. Er wartete, bis die Sanitäter Hongse zu Hilfe eilten, und rannte dann über die Straße zu dem Sportwagen. Es war ein älteres Modell, ähnlich den Autos, die Li aus amerikanischen Fernsehserien wie Einsatz in Manhattan oder Polizeirevier Hill Street kannte. Er hatte nicht vor, es zu stehlen (die meisten Sicherheitsbeamten und Soldaten waren zwar wieder abgerückt, doch es waren immer noch genügend in der Nähe, um ihn verfolgen und festnehmen zu können - vor allem am Steuer einer Karre, die leuchtete wie ein Eigelb). Nein, im Moment wollte er bloß eine Pistole und etwas Geld.
    Er öffnete die Beifahrertür, schob sich auf den Sitz und durchsuchte das Handschuhfach. Keine Waffen. Verärgert dachte er an seine Tokarew, die mittlerweile auf dem Meeresgrund lag. Zigaretten gab es hier auch nicht. Scheiße. Er fand eine Geldbörse mit ungefähr fünfzig Dollar in bar und steckte die Scheine ein. Dann nahm er das Blatt Papier, auf dem die Frau geschrieben hatte. Li konnte sich gut auf Englisch verständigen - dank der amerikanischen Spielfilme und der Follow-Me-Sendung von Radio Peking -, aber das Lesen bereitete ihm enorme Schwierigkeiten (und irgendwie war es auch unfair, dass man im Englischen mit etwa fünfundzwanzig Buchstaben auskam, während die chinesische Schrift über 40000 Zeichen verfügte). Mit einiger Mühe entzifferte er den richtigen Namen des Geists, Kwan Ang, sowie weitere Bruchstücke des Textes. Er faltete den Zettel zusammen, schob ihn in die Hemdtasche und verteilte ein paar Blätter vor der offenen Fahrertür auf dem Boden, damit es so aussah, als hätte der Wind sie hinausgeweht.
    Ein weiteres Fahrzeug näherte sich - eine schwarze Limousine, die verdächtig nach einem Dienstwagen aussah. Geduckt lief Li zurück ins Unterholz. Vor dort aus warf er erneut einen Blick auf die stürmische See und stellte fest, dass Hongse inzwischen in den gleichen Schwierigkeiten zu stecken schien wie der Ertrinkende. Plötzlich tat es ihm Leid, dass eine so hübsche Frau sich in Gefahr befand. Doch das war nun wirklich nicht sein Problem: Er hatte sich in erster Linie darum zu kümmern, am Leben zu bleiben und den Geist zu finden.
    Die Anstrengung, sich durch die heftige Brandung bis zu dem ertrinkenden Flüchtling vorzuarbeiten, hatte Amelia Sachs fast völlig erschöpft, und sie musste mit aller Kraft darum kämpfen, sich selbst und den Mann über Wasser zu halten. Ihre Knie- und Hüftgelenke protestierten schmerzhaft. Der Kerl leistete nicht die geringste Hilfe. Er war mittelgroß und schlank - ohne viel Fett, das zumindest für etwas Auftrieb gesorgt hätte. Lethargisch strampelte er ein wenig mit den Beinen, doch sein linker Arm war infolge einer Schusswunde in der Brust außer Gefecht gesetzt.
    Immer wieder drang beißendes Salzwasser in Amelias Mund und Nase ein, und so schwamm sie keuchend und spuckend in Richtung Ufer. Das Wasser brannte

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