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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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hatte er an einem riesigen Parkplatz gehalten, vor einer eleganten Bushaltestelle. Von hier aus, hatte der Fahrer ihm erklärt, konnte Sonny Li mit einem öffentlichen Bus an sein Ziel gelangen - Manhattan.
    Li wusste nicht genau, was zum Erwerb eines Fahrscheins nötig war, offenbar aber weder Pässe noch andere Dokumente. Er reichte dem Mann am Fahrkartenschalter einen der gestohlenen Zwanzigdollarscheine aus dem Wagen der rothaarigen Hongse und sagte: »New York City, bitte.« Dabei bemühte er sich um eine möglichst akzentfreie Aussprache und imitierte den Schauspieler Nicolas Cage. Das gelang ihm so gut, dass der Angestellte, der vermutlich mit einem unverständlichen Gestammel gerechnet hatte, überrascht aufblickte, ihm dann ein Ticket aus dem Computer ausdruckte und es mit sechs Dollar Wechselgeld über den Tresen schob. Li zählte den Betrag zweimal nach und kam zu dem Schluss, dass der Mann ihn entweder betrogen hatte oder er sich nun, wie er auf Englisch murmelte, in einem »scheißteuren Land« befand.
    An einem Kiosk kaufte er einen Rasierapparat und einen Kamm. Auf der Toilette rasierte er sich, wusch sich das Salzwasser aus den Haaren und trocknete sie mit Papiertüchern. Dann kämmte er die lichten Strähnen zurück und klopfte so gut es ging den Sand aus Hose und Jacke. Schließlich gesellte er sich zu den adrett gekleideten Pendlern an der Haltestelle.
    Jetzt, kurz vor der Stadt, verringerte der Bus an einer Mautkabine das Tempo und fuhr dann durch einen langen Tunnel. Endlich war es so weit. Zehn Minuten später hielt das Fahrzeug an einer belebten Einkaufsstraße.
    Li stieg mit den anderen Fahrgästen aus und stand auf dem Bürgersteig.
    Sein erster Gedanke: Wo sind bloß die ganzen Fahrräder und Mopeds? In China waren sie das vorherrschende private Transportmittel, und Li konnte sich die Straßen einer derart großen Stadt unmöglich ohne Millionen von Zweirädern der Marke Seemöwe vorstellen.
    Sein zweiter Gedanke: Wo gibt's hier Zigaretten?
    An einem Zeitungsstand wurde er fündig und kaufte eine Schachtel.
    Bei den zehn Richtern der Hölle!, dachte er diesmal, als er das Wechselgeld sah. Fast drei Dollar für nur ein einziges Päckchen! Er rauchte mindestens zwei Schachteln am Tag; drei, wenn er etwas Gefährliches tat und seine Nerven beruhigen musste. Die hiesigen Lebenshaltungskosten würden ihn spätestens nach einem Monat an den Rand des Ruins bringen. Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief, während er sich einen Weg durch die Menge bahnte. Als er eine hübsche Asiatin sah, fragte er sie, wie er am schnellsten nach Chinatown gelangen konnte, und wurde an die nächste U-Bahn-Station verwiesen.
    Er drängelte sich bis zum Schalter vor und kaufte einen Fahrchip. Auch dieser war teuer, aber er hatte es aufgegeben, die Preise beider Länder zu vergleichen. Er steckte den Chip in den Schlitz des Drehkreuzes, ging hindurch und wartete auf dem Bahnsteig. Es kam zu einem unerfreulichen Zwischenfall, weil ein Mann ihn plötzlich anschrie. Im ersten Moment hielt Li den Kerl für geistesgestört, obwohl der Fremde einen teuren Anzug trug. Dann jedoch begriff er, was der Mann sagte. Anscheinend war es verboten, in der U-Bahn zu rauchen.
    Li hielt das für Irrsinn. Er konnte es einfach nicht glauben. Aber da er keine weitere Aufmerksamkeit erregen wollte, drückte er die Zigarette aus und steckte sie in die Tasche. Leise tat er seine Meinung kund: »Was für ein bescheuertes Scheißland.«
    Wenige Minuten später brauste lautstark die Bahn heran, und Sonny Li stieg ein, als hätte er dies schon tausend Mal getan. Aufmerksam sah er sich um - nicht etwa nach Sicherheitsbeamten, sondern weil er herausfinden wollte, ob hier drinnen vielleicht jemand rauchte, sodass auch er wieder damit anfangen konnte. Leider entdeckte er niemanden.
    An der Canal Street verließ Li die Bahn und stieg die Treppe hinauf in die geschäftige morgendliche Stadt. Der Regen hatte aufgehört. Li zündete sich die angefangene Zigarette an und verschwand im Gewühl. Viele der Leute um ihn herum unterhielten sich in dem kantonesischen Dialekt des Südens, aber mit Ausnahme der Sprache wirkte diese Gegend genauso wie stellenweise seine Heimatstadt Liu Guoyuan - oder jede beliebige Kleinstadt Chinas: Kinos, in denen chinesische Action- und Liebesfilme liefen, herausfordernd grinsende junge Männer mit langem Haar, das sie entweder mit Gel zurückgekämmt oder hoch über die Stirn toupiert hatten, junge Mädchen, die

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