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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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ließ sie glauben, dass es besser wäre, ihm nicht zu helfen, doch ein zweiter Blick auf sein Gesicht machte ihr deutlich, welche Folgen eine Weigerung haben könnte. Sie nickte, schlug die Augen nieder und lieferte ihm eine seines Erachtens exzellente Wegbeschreibung bis zu der Straße namens Central Park West.
     
     
    ...Zwölf
    »Sie sehen besser aus«, sagte Amelia Sachs. »Wie fühlen Sie sich?«
    John Sung bat sie herein. »Ziemlich übel«, sagte er, schloss die Tür und begleitete Amelia ins Wohnzimmer. Er ging langsam und zuckte mehrmals zusammen. Verständlich, wenn man angeschossen wurde, dachte sie.
    Die Wohnung, in der dieser Anwalt ihn untergebracht hatte, war ein schäbiges Loch an der Bowery, das aus zwei Räumen mit ramponiertem, wild zusammengewürfeltem Mobiliar bestand. Unmittelbar darunter, im Erdgeschoss, lag ein chinesisches Restaurant. Überall roch es durchdringend nach saurem Öl und Knoblauch.
    Sung war von kräftiger Statur und hatte erst wenige graue Haare, doch die Verletzung ließ ihn gebeugt gehen. Beim Anblick seiner unsicheren Schritte empfand Amelia auf einmal ein tiefes Mitgefühl. Seine Patienten in China hatten ihn bestimmt respektiert, und als Arzt dürfte er - obgleich er Dissident war - einiges Ansehen genossen haben. Hier aber stellte Sung überhaupt nichts dar. Sie fragte sich, wie er wohl seinen Lebensunterhalt verdienen würde - als Taxifahrer, als Kellner?
    »Ich mache Tee«, sagte er.
    »Nein, es geht schon«, wandte sie ein. »Ich kann nicht lange bleiben.«
    »Ich wollte mir sowieso einen Tee zubereiten.« Es gab keine abgeteilte Küche; an einer Wand des Wohnzimmers standen ein Herd, ein kleiner Kühlschrank und ein rostiges Spülbecken. Sung stellte einen billigen Wasserkessel auf die flackernde Gasflamme und holte aus dem Schrank über der Spüle eine Schachtel Teebeutel hervor. Er roch daran und lächelte verwundert.
    »Nicht ganz das, was Sie gewohnt sind?«, fragte Amelia.
    »Ich gehe nachher noch einkaufen«, entschuldigte er sich.
    »Die Einwanderungsbehörde hat Sie gegen Kaution freigelassen?«
    Sung nickte. »Ich habe formell um Asyl gebeten. Der Anwalt sagt, dass die meisten Leute diesen Antrag stellen und abgelehnt werden. Ich bin aber zwei Jahre in einem Umerziehungslager gewesen. Und ich habe Artikel veröffentlicht, in denen ich die Pekinger Menschenrechtsverletzungen anprangere. Zum Beweis haben wir einige davon aus dem Internet heruntergeladen. Der Untersuchungsbeamte konnte natürlich nichts garantieren, aber er hat gesagt, die Chancen stünden nicht schlecht.«
    »Wann ist die Anhörung?«
    »Nächsten Monat.«
    Sachs beobachtete seine Hände, als er zwei Tassen aus dem Schrank nahm, sorgfältig ausspülte, abtrocknete und auf ein Tablett stellte. Seine Bewegungen hatten etwas Feierliches. Er riss die Teebeutel auf, schüttete den Inhalt in eine Keramikkanne, goss das heiße Wasser darüber und rührte alles flink mit einem Löffel um.
    So viel Aufwand für eine Tasse Lipton aus dem Supermarkt.
    Er trug das Tablett zum Tisch und setzte sich ungelenk hin. Dann füllte er die beiden Tassen und bot eine davon Amelia an. Sie beugte sich vor und nahm den Tee entgegen. Sungs Hände waren weich, aber sehr stark.
    »Haben Sie schon etwas von den anderen gehört?«, fragte er.
    »Wir glauben, dass sie sich irgendwo in Manhattan aufhalten. Sie haben einen Wagen gestohlen, der unweit von hier gefunden wurde. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen über die Leute stellen.«
    »Natürlich. Womit kann ich Ihnen dienen?«
    »Mit allem, was Sie wissen. Namen, Beschreibungen... einfach alles.«
    Sung hob die Tasse an die Lippen und trank einen winzigen Schluck. »Es sind zwei Familien entkommen - die Changs und die Wus - sowie ein paar Leute, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann. Auch einige Matrosen haben es von Bord geschafft. Chang wollte sie retten er saß in unserem Boot am Steuer -, aber der Geist hat sie erschossen.«
    Sachs probierte den Tee. Er schien ganz anders zu schmecken als der Tee, den sie sonst immer trank. Muss wohl Einbildung sein, dachte sie.
    Sung fuhr fort. »Die Mannschaft hat uns anständig behandelt. Vor unserer Abreise habe ich erschreckende Geschichten über die Besatzungen der Schlepperschiffe gehört, aber auf der Dragon war es nicht so. Wir haben immer frisches Wasser und genug zu essen erhalten.«
    »Ist Ihnen mittlerweile eingefallen, wohin die Changs oder Wus gegangen sein könnten?«
    »Nein, ich weiß bloß, was ich Ihnen

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