Das Gesicht des Drachen
Arm in Arm an der Seite ihrer Mütter oder Großmütter gingen, Geschäftsleute mit hochgeschlossenen Anzügen, frischer Fisch in Kisten voller Eis, Bäckereien, in denen man süßes Teegebäck und Reiskuchen kaufen konnte, Restaurants, in deren schmutzigen Fenstern geräucherte Enten hingen, Kräuterhändler und Akupunkteure, chinesische Ärzte, Schaufenster voller Ginsengwurzeln, die wie verzerrte Abbilder menschlicher Körper aussahen.
Und ganz in der Nähe, so hoffte Li, würde er noch etwas finden, das er nur zu gut kannte.
Er suchte zehn Minuten, dann sah er es. Das verräterische Zeichen fiel ihm sofort auf - ein Türsteher, ein junger Mann mit Mobiltelefon, der rauchend die Passanten in Augenschein nahm und dabei vor einem Etablissement herumschlenderte, dessen Scheiben geschwärzt waren. Es handelte sich um einen Spielsalon.
Li ging hin und sprach den Mann auf Englisch an. »Was wird hier gespielt? Fan tai? Poker? Vielleicht Dreizehn Punkte?«
Der Mann warf einen Blick auf Lis Kleidung und ignorierte ihn.
»Ich möchte spielen«, sagte Li.
»Verpiss dich«, lautete die barsche Antwort.
»Ich habe Geld«, rief Li verärgert. »Lass mich rein!«
»Du kommst aus Fujian, das höre ich an deinem Akzent. Du bist hier nicht willkommen. Hau ab, oder es wird dir noch Leid tun.«
Li wurde wütend. »Meine Dollars sind genauso gut wie die beschissenen kantonesischen Dollars. Will dein Boss etwa, dass du die Kundschaft verscheuchst?«
»Verschwinde von hier, kleiner Mann. Noch einmal werde ich das nicht wiederholen.«
Bei diesen Worten zog er das Revers seiner schicken schwarzen lacke beiseite, sodass der Kolben einer automatischen Pistole sichtbar wurde.
Hervorragend! Genau darauf hatte Li spekuliert.
Er tat verängstigt und wandte sich ab, nur um im nächsten Moment mit ausgestrecktem Arm herumzuwirbeln. Der Hieb traf den jungen Mann an der Brust und trieb ihm die Luft aus der Lunge. Der Türsteher torkelte zurück, und Li schlug ihn mit der offenen Handfläche auf die Nase. Mit einem Schrei stürzte der Mann zu Boden. Dort lag er dann und rang mit blutender Nase hektisch nach Atem, während Li ihm einen Tritt in die Seite verpasste.
Li nahm ihm die Waffe, ein Reservemagazin und die Zigaretten ab und schaute sich auf der Straße um. Zwei junge Frauen gingen Arm in Arm vorbei und taten so, als hätten sie nichts gesehen. Ansonsten war die Straße menschenleer. Er beugte sich noch einmal zu dem Pechvogel hinab und erleichterte ihn zusätzlich um die Armbanduhr und ungefähr dreihundert Dollar in bar.
»Falls du jemandem davon erzählst, werde ich dich finden und töten«, sagte Li zu dem Türsteher.
Der Mann nickte und wischte sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht.
Li machte sich auf den Weg, warf dann einen Blick über die Schulter und drehte um. Der Mann krümmte sich zusammen. »Zieh deine Schuhe aus«, befahl Li.
»Ich. «
»Deine Schuhe. Zieh sie aus.«
Er schnürte die schwarzen Kenneth Coles auf und schob sie zu Li hinüber.
»Die Socken auch.«
Die teuren schwarzen Seidensocken gesellten sich zu den Schuhen.
Li entledigte sich seiner eigenen Schuhe und Socken, die voller Sand und noch immer nass waren, und schleuderte sie weg. Dann zog er die erbeuteten Sachen an.
Himmlisch, dachte er zufrieden.
Eilig kehrte er auf eine der belebten Einkaufsstraßen zurück. Dort betrat er ein billiges Bekleidungsgeschäft und kaufte eine Jeans, ein T-Shirt und einen dünnen Anorak Marke Nike. Im hinteren Teil des Ladens zog er sich um, bezahlte seine Einkäufe und warf die alten Klamotten in eine Mülltonne. Danach suchte er ein chinesisches Restaurant auf und bestellte Tee und eine Schale Nudeln. Beim Essen zog er ein gefaltetes Stück Papier aus der Brieftasche, das Blatt, das er aus Hongses Wagen am Strand gestohlen hatte.
8. August Von: Harold C. Peabody, Stellv. Vollzugsleiter, US Immigration and Naturalization Service An: Det. Capt. Lincoln Rhyme (i. R.)
Betr.: Gemeinsame INS/FBI/NYPD-Einsatzgruppe im Fall Kwan Ang alias Gui alias Der Geist Hiermit bestätige ich das für morgen, 10.00 Uhr, angesetzte Treffen zwecks Erörterung unseres Vorgehens zur Ergreifung des oben genannten Verdächtigen. Zu Ihrer Information füge ich entsprechendes Hintergrundmaterial bei.
An dem Memo war mit einer Heftklammer eine Visitenkarte befestigt:
Lincoln Rhyme 345 Central Park West New York, NY 10022
Li winkte die Kellnerin heran und stellte ihr eine Frage.
Irgendetwas an diesem Mann ängstigte sie und
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