Das Gesicht des Drachen
besteht?«, wandte Rhyme sich an Sellitto.
»An der Wand hinter dem Schreibtisch, wo man seine Leiche gefunden hat, stand eine Nachricht: >Ihr nennt uns Spaghettifresser und nehmt uns unsere Häuser weg.< Sie wurde mit Mahs Blut geschrieben.«
Deng nickte. »Zwischen den Tongs und den Mafiosi der dritten Generation - Sie wissen schon, wie im Fernsehen bei den Sopranos herrscht heftige Konkurrenz. Im Bereich der Spiel- und Massagesalons - und teilweise auch beim Drogenhandel - wurden die Italiener von den Chinesen fast vollständig aus Manhattan verdrängt.«
Die Demographie des Mobs änderte sich genauso fließend wie die Zusammensetzung der New Yorker Bevölkerung, wusste Rhyme.
»Wie dem auch sei«, sagte Coe. »Diese Leute von der Dragon werden schnellstmöglich untertauchen und sich nicht mit einer bekannten Person wie Mah einlassen. Ich jedenfalls würde mich so verhalten.«
»Außer die Menschen sind sehr verzweifelt«, sagte Sachs. »Und das sind sie in diesem Fall.« Sie sah Rhyme an. »Vielleicht hat der Geist den Mann umgebracht und es wie die Tat eines Rivalen aussehen lassen. Soll ich mir den Tatort anschauen?«
Rhyme überlegte kurz. Ja, die Familien waren verzweifelt, aber er hatte bereits gesehen, wie einfallsreich sie vorgingen, vermutlich dank Sam Chang. Es wäre zu riskant, jemanden wie Mah um Hilfe zu bitten, glaubte er. »Nein, ich brauche dich hier. Aber schick ein Sonderteam der Spurensicherung hin, und sag ihnen, sie sollen uns ihren Bericht übermitteln.«
Er wandte sich an Eddie Deng. »Rufen Sie Dellray und Peabody im Bundesgebäude an, und informieren Sie sie über den Mord.«
»Jawohl, Sir«, sagte der Detective.
Dellray war in die Zentrale gefahren, um zusätzliche Leute aus den zwei relevanten New Yorker Zuständigkeitsbereichen der Bundesbehörde zu organisieren - dem südlichen und dem östlichen Bezirk, die Manhattan und Long Island abdeckten. Außerdem bemühte er sich um das SPEC-TAC Team, wogegen Washington sich bislang noch sträubte. Die Sondereinheit war normalerweise für größere Geiselnahmen oder Botschaftsbesetzungen vorgesehen, nicht für Großfahndungen. Rhyme wusste jedoch, dass Dellray nur selten ein Nein akzeptierte, und falls überhaupt jemand es schaffen konnte, ihnen zu dieser dringend benötigten taktischen Unterstützung zu verhelfen, dann der schlaksige FBI-Agent.
Er fuhr mit seinem Rollstuhl zurück zu den Beweisstücken und der Wandtafel.
Nichts, nichts, nichts.
Was können wir sonst noch tun?, grübelte er. Woran haben wir noch nicht gedacht? Er musterte die Tafel.
»Nehmen wir uns das Blut genauer vor«, sagte er schließlich. Er betrachtete die Proben, die Sachs eingesammelt hatte: das Blut der verletzten Frau, deren Arm, Hand oder Schulter gebrochen oder aufgeschlitzt war.
Lincoln Rhyme griff gern auf Blutspuren zurück. Sie waren leicht zu entdecken, hafteten wie angewachsen auf allen möglichen Oberflächen und behielten ihre wichtigen gerichtsverwertbaren Informationen über einen Zeitraum von vielen Jahren.
Genau genommen spiegelte die historische Bedeutung des Blutes bei polizeilichen Ermittlungen in weiten Teilen die Geschichte der gesamten forensischen Wissenschaft wider.
Die ersten Bemühungen, Blut als Beweismittel zu nutzen, beschränkten sich in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts darauf, es zu klassifizieren, also festzustellen, ob es sich bei einer unbekannten Substanz tatsächlich um Blut und nicht etwa um - beispielsweise - getrocknete braune Farbe handelte. Fünfzig Jahre später versuchte man hauptsächlich, menschliches Blut sicher identifizieren und von tierischem Blut unterscheiden zu können. Wenig später bemühte die Polizei sich um eine Methode, Blut genauer differenzieren und somit in eine begrenzte Anzahl von Kategorien einteilen zu können, und die Wissenschaft entwickelte daraufhin mehrere Verfahren zur Blutgruppenbestimmung (sowohl das AB-Null- als auch die MNS- und Rhesus-Systeme), wodurch sich der Kreis der möglichen Quellen eingrenzen ließ. In den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts versuchten die forensischen Forscher, noch einen Schritt weiter zu gehen und das Blut zu individualisieren, um es wie einen Fingerabdruck einer einzelnen Person zuordnen zu können. Zunächst konzentrierte man sich auf einen biochemischen Ansatz und ermittelte die Enzyme und Proteine, konnte dadurch aber nur einen Großteil der potenziellen Urheber einer Blutspur ausschließen, nicht alle. Erst mit der
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