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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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eigentlich mit Ihnen über den Fall Latterly sprechen.«
    »Latterly! Was, zum Teufel, spielt das jetzt für eine Rolle? Irgendein armer Hund hat Selbstmord begangen!« Runcorn schlenderte zu seinem Schreibtisch, setzte sich hin und begann ihn nach Streichhölzern zu durchsuchen. »Dafür ist die Kirche zuständig, nicht wir. Haben Sie zufällig Feuer, Monk? Wir hätten uns gar nicht drum gekümmert, wenn dieses unselige Weib nicht so ein Geschrei gemacht hätte. Äh – lassen Sie nur, da sind sie ja. Sollen sie ihre Toten doch gefälligst ohne Wirbel unter die Erde bringen!« Er zündete ein Streichholz an, hielt es an die Zigarre und begann gemütlich zu paffen. »Der Mann steckte bis über beide Ohren in einem Geschäft, das danebenging. Auf seinen Rat hin hatten all seine Freunde in das Unternehmen investiert, und damit wurde er nicht fertig. Hat sich eben für diesen Ausweg entschieden; manche nennen es feige, andere nennen es ehrenhaft.« Er blies den Rauch aus und blickte zu Monk hoch. »Ich nenn’s verdammt albern. Aber in dieser Klasse ist man nun mal empfindlich, wenn es um den guten Ruf geht. Stolz ist ein übler Ratgeber – vor allem gesellschaftlicher Stolz.« Aus seinen Augen blitzte boshaftes Vergnügen. »Vergessen Sie das nicht, Monk.«
    Er wandte sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu. »Was verschwenden Sie überhaupt Ihre Zeit mit Latterly? Kümmern Sie sich lieber um Grey. Wir müssen den Fall aufklären, egal was dabei herauskommt. Die Öffentlichkeit läßt sich nicht mehr lange hinhalten; haben Sie gewußt, daß man sich sogar im Oberhaus schon wundert?«
    »Nein, Sir, aber wenn ich an Lady Shelburnes Verfassung denke, überrascht’s mich nicht. Haben Sie eine Akte über den Fall Latterly, Sir?«
    »Sie sind ein sturer Bock, Monk – das ist eine recht zweifelhafte Charaktereigenschaft. Ich habe einen Bericht von Ihnen, in dem schwarz auf weiß steht, daß es Selbstmord war und uns nicht weiter betreffen würde. Sie wollen das Ganze doch nicht noch mal durchkauen?«
    »Doch, Sir. Genau das will ich.« Monk nahm die Akte und ging.
    Er besuchte die Latterlys nach Dienstschluß, in seiner Freizeit, da er nicht offiziell an dem Fall arbeitete. Irgendwann mußte er schon einmal dort gewesen sein; Mrs. Latterly und er konnten sich kaum zufällig kennengelernt haben, und daß sie auf dem Revier aufgetaucht war, erschien ihm unwahrscheinlich. Er ließ seinen Blick durch die Straße vor ihrem Haus wandern, ohne etwas wiederzuerkennen.
    Monk stand vor der Haustür der Latterlys und war nervös wie ein Backfisch. Würde sie da sein? Er hatte sooft an sie gedacht. Erst in diesem Moment kam ihm der Gedanke, daß sie ihn wahrscheinlich vergessen hatte, und er wurde sich seiner Naivität und Verletzlichkeit schmerzhaft bewußt. Womöglich mußte er ihr sogar erklären, wer er war, und zweifellos würde er einen fürchterlich plumpen und unbeholfenen Eindruck machen, wenn er ihr mitteilte, daß er keine Neuigkeiten zu überbringen hatte.
    Er wußte nicht recht, ob er bleiben oder gehen sollte; vielleicht war es besser, ein andermal wiederzukommen. In dem Moment erschien eine Magd im Kellervorhof, und er hob die Hand und klopfte an.
    Das Stubenmädchen öffnete ihm fast augenblicklich. Sie hob leicht überrascht die Brauen.
    »Guten Abend, Mr. Monk. Möchten Sie eintreten, Sir?« Am liebsten hätte sie ihn gleich auf der Türschwelle abgewimmelt.
    »Die Herrschaft hat gerade zu Abend gegessen und ist im Salon. Soll ich fragen, ob man Sie empfängt?«
    »Ja, bitte. Das wäre nett.« Monk gab ihr seinen Mantel und folgte ihr in ein kleines Damenzimmer. Nachdem sie verschwunden war, ging er ruhelos auf und ab, ohne die Möbel, die Gemälde oder den abgetretenen Teppich wahrzunehmen. Was sollte er sagen? Er war in eine Welt eingedrungen, in der er nichts verloren hatte, nur weil das Gesicht einer Frau diffuse Träume in ihm weckte. Wahrscheinlich fand sie ihn abscheulich und würde ihn nicht weiter ertragen, wenn sie wegen ihres Schwiegervaters nicht derart bedrückt wäre und die Hoffnung hätte, er könnte sie zumindest teilweise von ihrem Kummer erlösen. Selbstmord war eine unverzeihliche Schandtat und in den Augen der Kirche mit finanziellen Problemen nicht zu rechtfertigen. Es war durchaus denkbar, daß Mr. Latterly auf ungeweihten Boden überführt wurde, wenn der Schuldspruch unwiderruflich feststand.
    Für eine Flucht war es eindeutig zu spät, dennoch war die Vorstellung verlockend. Er

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