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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Das Erlebnis mußte ihm einen derart nachhaltigen Schock versetzt haben, daß er es bis heute nicht hatte vergessen können. War das vielleicht die Triebfeder hinter seinem Ehrgeiz, hinter dem unablässigen Drang, sich zu verbessern und den geheimnisvollen Mentor nachzuahmen, an dessen Gesicht er sich nicht erinnerte? Gebe Gott, daß es so war; es würde ihn zu einem erträglicheren Menschen machen, eventuell sogar zu einem, den er akzeptieren konnte.
    Hatten Joscelin Grey solche Dinge etwas ausgemacht?
    Monk hatte die feste Absicht, seinen Tod zu rächen. Er würde kein Mann sein, an dessen Tod man sich eher erinnerte als an seine Taten zu Lebzeiten.
    Außerdem mußte er Licht in den Fall Latterly bringen. Er konnte kaum zu Mrs. Latterly gehen, ohne wenigstens in groben Zügen über das auf dem laufenden zu sein, was er ihr aufzuklären versprochen hatte – wie unangenehm die Wahrheit auch sein mochte. Und er hatte vor, zu ihr zu gehen! Wie er jetzt so darüber nachdachte, wurde ihm plötzlich klar, daß er es die ganze Zeit über vorgehabt hatte, daß er ihr Gesicht sehen, ihre Stimme hören, ihre Bewegungen beobachten wollte; er wollte ein einziges Mal im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stehen, wenn auch nur für kurze Zeit.
    Sich die Akten noch einmal anzusehen hatte wenig Sinn; das hatte er bereits zur Genüge getan. Wahrscheinlich war es sinnvoller, gleich zu Runcorn zu gehen.
    »Morgen, Monk.« Runcorn saß nicht hinter seinem Schreibtisch, sondern stand am Fenster. Er klang munter und fidel. Sein bleiches Gesicht hatte Farbe, als ob er einen ausgiebigen Spaziergang in der Sonne gemacht hätte. Seine Augen strahlten. »Na, was macht der Mordfall Grey? Gibt’s was Neues für die Presse? So schnell geben die nicht auf, wissen Sie.« Er rümpfte leicht die Nase und fischte in seiner Tasche nach einer Zigarre. »Es dauert nicht mehr lang, dann wollen sie Blut sehen – Rücktritt und so weiter, man kennt das ja!«

9
    Monk sah an seiner Haltung, wie zufrieden er war. Die Schultern waren gestrafft, das Kinn etwas emporgereckt, die frischgeputzten Schuhe hatten einen beinah triumphierenden Glanz.
    »Ja, Sir, das werden sie wohl«, räumte er ein. »Aber wie Sie selbst vor über einer Woche festgestellt haben, handelt es sich um eine dieser Ermittlungen, die geradezu prädestiniert dazu sind, schmutzige Wahrheiten ans Licht zu bringen. Wir sollten auf keinen Fall ohne entsprechende Beweise eine überstürzte Stellungnahme abgeben.«
    »Haben Sie überhaupt was in der Hand, Monk?« Runcorns Gesicht wurde härter, doch seine hoffnungsvolle Vorfreude war ungetrübt. »Oder sind Sie genauso verloren wie Lamb?«
    »Im Moment sieht es ganz nach einem Familiendrama aus, Sir«, gab Monk so gelassen wie möglich zurück. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß Runcorn alle Fäden in der Hand hielt und es überaus genoß. »Zwischen den Brüdern bestanden enorme Spannungen. Die gegenwärtige Lady Shelburne wurde von Joscelin hofiert, ehe sie Lord Shelburne heiratete.«
    »Kaum ein Grund, ihn zu ermorden«, unterbrach ihn Runcorn verächtlich. »Würde höchstens einen Sinn ergeben, wenn Shelburne das Opfer wäre. Anscheinend haben Sie nichts auf Lager!«
    Monk beherrschte sich mühsam. Er spürte, daß Runcorn ihn provozieren wollte. Schließlich war ein Sieg wesentlich süßer, wenn die Niederlage offen zugegeben wurde und man ihn in Gegenwart des Besiegten auskosten konnte. Monk fragte sich, warum ihm das nicht schon vorher klargewesen war. Wieso hatte er dem nicht vorgebeugt oder war der Situation nicht gleich ganz aus dem Weg gegangen?
    »Nichts Konkretes«, sagte er bewußt gleichgültig. »Aber ich denke, Joscelin war der Dame nach wie vor lieber, und ihr einziges Kind, das kurz vor seiner Abreise auf die Krim zur Welt kam, sieht ihm wesentlich ähnlicher als seiner Lordschaft.«
    Runcorn machte im ersten Moment ein langes Gesicht, doch dann verzog er es langsam zu einem breiten Grinsen, das eher an ein Zähnefletschen erinnerte. Die Zigarre steckte immer noch unangezündet in seiner Hand.
    »Ach, was Sie nicht sagen! Tja, ich hab Sie ja gewarnt, daß es brenzlich werden kann. Passen Sie bloß auf, Monk. Behaupten Sie nichts, was Sie nicht beweisen können. Die Shelburnes lassen Sie suspendieren, ehe Sie Piep sagen können.«
    Und genau das wünschst du dir, dachte Monk.
    »Richtig, Sir«, sagte er laut. »Und aus diesem Grund tappen wir – was die Presse betrifft – auch nach wie vor im dunkeln. Ich wollte

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