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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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spielte gerade mit dem Gedanken, sich eine andere Erklärung für sein Kommen einfallen zu lassen, etwas, das mit Grey und dem Brief in seiner Wohnung zusammenhing, als das Stubenmädchen zurückkam und weitere Überlegungen abrupt beendete.
    »Mrs. Latterly erwartet Sie, Sir. Würden Sie mir bitte folgen« Gehorsam schlich er mit klopfendem Herzen und trockenem Mund hinter ihr her.
    Der Salon war gemütlich, nicht zu groß und nicht zu klein, und ursprünglich mit einem Aufwand möbliert worden, der Leuten mit viel Geld zu eigen ist. Der Raum wirkte nach wie vor elegant, doch die Vorhänge waren etwas ausgebleicht, und an den mit Quasten besetzten Kordeln fehlte hier und da eine Troddel. Auch die Qualität des Teppichs konnte mit der des Chippendaletischchens und der Chaiselongue nicht mithalten. Monk fühlte sich in der Umgebung sofort wohl und fragte sich, wo im Verlauf seiner Selbstverfeinerung er soviel über guten Geschmack gelernt hatte.
    Sein Blick glitt zu Mrs. Latterly, die vor dem Kamin saß. Sie trug nicht mehr Schwarz, sondern tiefes Dunkelrot, was ihrem Teint einen rosigen Schimmer verlieh. Ihr Hals und ihre Schultern waren schlank und anmutig wie die eines Kindes, ihr Gesicht war jedoch das einer erwachsenen Frau. Sie sah ihn mit großen, leuchtenden Augen an, deren Ausdruck er nicht deuten konnte, da sie zu sehr im Schatten lagen.
    Er konzentrierte sich eilends auf den Rest der Anwesenden. Der Mann mit dem helleren Haar und den schmalen Lippen mußte ihr Mann sein, die ihm gegenübersitzende Frau mit dem hochmütigen Gesicht, das so voller Unwillen, aber auch Einfallsreichtum war, kannte er bereits; sie hatten sich bei ihrer Begegnung auf Shelburne Hall miteinander gestritten – Miss Hester Latterly.
    »Guten Abend, Monk«, sagte Charles, ohne aufzustehen. »Sie erinnern sich an meine Frau?« Er machte eine vage Handbewegung in Imogens Richtung. »Und das ist meine Schwester, Miss Hester Latterly. Sie war auf der Krim, als Vater starb.« Seinem Ton nach zu schließen, hatte er eindeutig etwas dagegen, daß Monk die Nase in seine Angelegenheiten steckte.
    Monk wurde von einem grauenhaften Verdacht befallen. Hatte er ihren Kummer nicht genügend respektiert, war er zu forsch aufgetreten? Hatte er vielleicht etwas Unüberlegtes gesagt oder sich zu sehr in ihre Privatsphäre gedrängt? Das Blut stieg ihm in den Kopf, und er rettete sich hastig in unverfängliche Begrüßungsfloskeln, um das peinliche Schweigen zu durchbrechen.
    »Guten Abend, Sir.« Dann, mit einer angedeuteten Verbeugung erst vor Imogen, anschließend vor Hester: »Guten Abend, Ma’am; Miss Latterly.« Er hatte nicht die Absicht, ihre frühere Begegnung zur Sprache zu bringen. Dazu war die Episode zu unerfreulich gewesen.
    »Was können wir für Sie tun?« erkundigte sich Charles, während er mit dem Kopf auf einen Stuhl deutete, um Monk zu verstehen zu geben, daß er sich notfalls setzen durfte.
    Kaum hatte er sich niedergelassen, schoß Monk der nächste beklemmende Gedanke durch den Kopf. Imogen hatte sich bei ihrem sonderbaren Zusammentreffen in der Kirche sehr zurückhaltend, fast heimlichtuerisch benommen. War es möglich, daß weder ihr Mann noch ihre Schwägerin wußten, daß sie die Angelegenheit über den Abschluß der üblichen Formalitäten hinaus verfolgt hatte? Wenn es so war, durfte er sie auf keinen Fall verraten.
    Er atmete tief durch und hoffte inständig, daß er keinen vollkommen verrückten Eindruck machen würde. Wenn er sich nur an irgend etwas erinnern könnte, das Charles ihm erzählt hatte – oder Imogen, unter vier Augen. Es blieb ihm keine andere Wahl, als zu bluffen; er mußte so tun, als hätte sich etwas Neues ergeben, etwas, das mit dem Mordfall Grey zusammenhing, denn das war der einzige Fall, über den er einigermaßen Bescheid wußte. Diese Leute kannten ihn, egal wie flüchtig. Er hatte bis kurz vor seinem Unfall für sie gearbeitet – war da nicht anzunehmen, daß sie ihm etwas über seine Person verraten konnten?
    Aber das war nicht mal die halbe Wahrheit, und er wußte es. Wozu sich selbst belügen? Er war einzig und allein wegen Imogen Latterly hier. Ihr Gesicht verfolgte ihn wie eine ferne Erinnerung, die in keinerlei Bezug zur Realität stand.
    Die Latterly’s sahen ihn unverwandt an; sie warteten.
    »Wäre es denkbar…«, begann er, aber seine Stimme klang so heiser, daß er sich hastig räusperte. »Ich habe eine überraschende Entdeckung gemacht, aber bevor ich Sie darüber in Kenntnis

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