Das Gesicht des Fremden
gefallen?
Wieviel Macht doch die Einbildungskraft besaß, und zu welchen törichten Schlüssen sie einen verleiten konnte! Wenn er nicht genau wüßte, wie idiotisch das war, würde er fast glauben, daß sie beide schwerwiegende Erinnerungen miteinander teilten.
Hester, Imogen und Charles standen wie betäubt in dem kleinen Salon, nachdem Monk gegangen war. Helles Sonnenlicht schien durch das hinter den breiten Terrassentüren schimmernde Blattwerk in den Raum hinein. Es war absolut still.
Charles holte Atem, wie um etwas zu sagen, sah erst seine Frau, dann Hester an, ließ einen Seufzer entweichen und schwieg. Einen Augenblick später ging er mit angespanntem und unglücklichem Gesicht zur Tür, entschuldigte sich mechanisch und verschwand.
In Hesters Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie mochte Monk nicht, und er brachte sie zur Weißglut, doch je länger sie ihn beobachtete, desto mehr mußte sie ihre frühere Meinung bezüglich seiner Inkompetenz revidieren. Seine Fragen waren zwar scheinbar ziellos, und er schien Joscelin Greys Mörder seit ihrer ersten Begegnung keinen Schritt näher gekommen zu sein, trotzdem waren seine Intelligenz und seine unerbittliche Hartnäckigkeit nicht zu übersehen. Der Fall berührte ihn – es war sein Gerechtigkeitssinn, der ihn antrieb.
Wenn es nicht so weh tun würde, wäre es ein Grund zum Lachen, diese verblüffende Sanftheit im Umgang mit Imogen, diese Anhimmelei und dieser Beschützerinstinkt – alles Regungen, die Hester gewiß nicht bei ihm hervorrief. Ihr war dieser Gesichtsausdruck schon bei vielen Männern aufgefallen; genau die gleichen Gefühle hatte Imogen bei Charles geweckt, als sie sich zum erstenmal begegnet waren, und seitdem bei unzähligen anderen. Hester war sich nie im klaren, ob Imogen sich dessen bewußt war oder nicht.
Hatte sie etwas Ähnliches auch bei Joscelin Grey bewirkt?
War auch er dem Zauber ihres Charmes, ihrer strahlenden Augen und dieser Unschuld erlegen, die jedes ihrer Worte, jede ihrer Taten zu umgeben schien?
Charles liebte sie. Ihr Bruder war ein ruhiger Mensch, der sich, zugegeben, manchmal etwas zu wichtig nahm und seit dem Tod des Vaters bedrückter war und leichter aufbrauste als davor – aber er war auch ehrlich, konnte großmütig sein, bisweilen sogar lustig; zumindest war das früher so gewesen. In letzter Zeit war er ernster geworden, als ob ihm etwas schwer auf der Seele lasten würde.
Hatte Imogen den witzigen, galanten, vor Charme sprühenden Joscelin Grey interessanter gefunden? In dem Fall mußte Charles schrecklich gelitten haben, trotz seiner scheinbaren Selbstbeherrschung, und es war nicht auszuschließen, daß er die Kontrolle über sich verloren hatte. Imogen hütete eine Geheimnis. Hester kannte sie gut genug, um die leichten Spannungen zu spüren, um zu merken, wann sie schwieg, statt sich wie früher mitzuteilen, und wie vorsichtig sie sich zuweilen ausdrückte, wenn sie alle zusammen waren. Es war nicht etwa Charles, vor dem sie sich in acht nahm; der war unempfänglich für solche Dinge, ging sowieso davon aus, die Frauen niemals verstehen zu können. Nein, es war Hester. Imogen war so herzlich wie eh und je, nach wie vor sehr großzügig, wenn es darum ging, ihr eine Kleinigkeit auszuleihen, sie zu loben oder ihr zu danken – aber sie war vorsichtig geworden, sie war nicht mehr spontan.
Was mochte dieses Geheimnis sein? Etwas an Imogens Verhalten ließ Hester ahnen, daß es mit Joscelin Grey zusammenhing, denn Imogen hatte einerseits Angst vor dem Polizisten Monk, andererseits verfolgte sie ihn regelrecht.
»Du hast nie erwähnt, daß Joscelin Grey mit George befreundet war«, sagte sie laut.
Imogen blickte aus dem Fenster. »Nein? Na, wahrscheinlich wollte ich dich nicht unnötig quälen und dachte mir, es wäre besser, dich weder an ihn noch an Mama oder Papa zu erinnern.«
Daran war nichts auszusetzen. Hester glaubte ihr zwar nicht, aber es war exakt das, was Imogen in so einer Situation getan hätte.
»Danke«, erwiderte sie. »Das war sehr rücksichtsvoll von dir, vor allem, wo du Major Grey so gern hattest.«
Imogen lächelte, den verträumten Blick auf einen fernen Punkt jenseits der sonnenlichtgesprenkelten Scheibe gerichtet. Hester fand nicht, daß es ihr zustand, darüber nachzugrübeln, was ihre Schwägerin sah.
»Er war so lustig«, sagte Imogen langsam. »Joscelin war ganz anders als alle, die ich kenne. Er ist auf schreckliche Art ums Leben gekommen, aber ich schätze, es ging
Weitere Kostenlose Bücher