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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Stadt war bleigrau; schwere Regentropfen prasselten auf die Erde. Während Monk nach Hause ging, überlegte er voll Bitterkeit, daß die Zeitungen mit ihrer Kritik vollkommen recht hatten. Er war inzwischen kaum schlauer als damals, als Evan ihn mit dem dürftigen Beweismaterial vertraut gemacht hatte. Shelburne war der einzige, der seines Wissens ein klares Motiv hatte, trotzdem gab ihm dieser unselige Spazierstock in Greys Diele zu denken. Er war nicht die Mordwaffe, aber er hatte ihn schon mal gesehen. Joscelin Grey konnte der Stock nicht gehört haben, denn Imogen hatte deutlich gesagt, daß er sich nach dem Tod ihres Schwiegervaters nicht mehr bei den Latterlys hatte blicken lassen, und davor war Monk zweifellos noch nie dort gewesen.
    Aber wem gehörte er dann? Shelburne auch nicht.
    Ohne daß es ihm aufgefallen war, hatten ihn seine Füße nicht zu seiner Wohnung, sondern zum Mecklenburg Square getragen.
    Unten in der Halle traf er auf Grimwade.
    »’n Abend, Mr. Monk. So ein Sauwetter draußen, Sir. Der Sommer is auch nich mehr, was er mal war. Erst Hagelkörner im Juli, daß es aussieht, als wenn’s geschneit hat, und jetzt das! ’ne richtige Strafe, bei so ’nem Wetter unterwegs zu sein.« Mitleidig beäugte er Monks triefenden Mantel. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Sir?«
    »Der Mann, der bei Mr. Yeats war –«
    »Der Mörder?« Obwohl Grimwade erschauerte, sprach der melodramatische Ausdruck in seinem hageren Gesicht dafür, daß er die Vorstellung genoß.
    »Es sieht so aus, ja«, räumte Monk ein. »Würden Sie ihn mir bitte noch einmal beschreiben?«
    Grimwade verdrehte die Augen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
    »Tja, is nich so einfach, Sir. Is schließlich schon ’ne ganze Weile her, und je mehr ich versuch, mich dran zu erinnern, desto schwieriger wird’s. Groß war er, das weiß ich noch, aber für ’ne Übergröße, wie Sie vielleicht sagen würden, hat’s nich gereicht. Schwer zu sagen, wenn jemand ’n Stück von einem weg steht. Als er kam, sah er ’n paar Zentimeter kleiner aus als Sie, obwohl er mir irgendwie größer vorkam, als er wieder ging. Kann mich aber auch täuschen, Sir.«
    »Das ist doch schon mal was. Was für eine Gesichtsfarbe hatte er denn: frisch, fahl, blaß, dunkel?«
    »Eher frisch, Sir. Aber das lag vielleicht an der Kälte. Mann, war das ’ne scheußliche Nacht, nich normal für Juli! Wie im Winter ging’s zu, mit ’nem Ostwind, daß einem alles vergangen is.«
    »Und Sie wissen nicht mehr, ob er einen Bart hatte?«
    »Ich glaub nich, Sir, und wenn, dann muß er so winzig gewesen sein, daß er unter ’nem Schal verschwinden konnte.«
    »Aber er war dunkelhaarig? Er könnte nicht auch braun oder sogar blond gewesen sein?«
    »Nee Sir, nich blond und nich rotblond, ausgeschlossen; braun vielleicht schon. Aber ich erinner mich, daß er furchtbar graue Augen hatte. Die sind mir aufgefallen, als er rausgegangen is – so richtig stechende Augen hat der gehabt, genau wie die Typen, die Leute hypnotisieren.«
    »Stechende Augen? Sind Sie sicher?« fragte Monk ungläubig; Grimwades Hang zur Melodramatik machte ihn etwas skeptisch.
    »Jawohl, Sir. Je länger ich drüber nachdenk, desto sicherer bin ich mir. An sein Gesicht kann ich mich nich mehr erinnern, aber den Blick werd ich nie vergessen – nich als er reinkam, als er rausging! Komische Sache, versteh ich selbst nich. Hätt ich eigentlich schon merken müssen, als er mit mir gesprochen hat, hab ich aber nich – so wahr ich hier stehe!« Er schaute Monk treuherzig an.
    »Vielen Dank, Mr. Grimwade. Und jetzt werde ich nachsehen, ob Mr. Yeats zu Hause ist. Wenn nicht, warte ich auf ihn.«
    »Oh – der is da, Sir. Schon ’ne ganze Weile. Soll ich Sie hochbringen, oder wissen Sie noch, wo’s langgeht?«
    »Ich kenne den Weg, danke.« Monk lächelte grimmig und machte sich an den Aufstieg. Dieser Ort wurde ihm allmählich widerwärtig vertraut. Er lief schnell an Greys Wohnungstür vorbei und klopfte heftig an Yeats Tür. Einen Moment später schwang sie auf, und Yeats bekümmertes, kleines Gesicht blickte zu ihm auf.
    »Oh!« entfuhr es ihm entsetzt. »Ich – ich wollte auch schon mit Ihnen sprechen. Ich – ich, äh… ich nehme an, das hätte ich längst tun sollen.« Er rang nervös die Hände, deren Knöchel schon ganz rot waren. »Aber Mr. – äh – Grimwade hat mir alles von dem Einbrecher erzählt, wissen Sie, und – und da dachte ich, Sie – Sie hätten den Mörder schon –

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