Das Gesicht des Fremden
Tod wünschen sollen? Er war nett. Ich habe kein einziges Mal erlebt, daß ein Streit mit ihm über ein paar scharfe Worte hinausging. Sein Humor war vielleicht manchmal etwas boshaft, aber kaum ein Grund, Mordgelüste zu wecken.«
»Meine liebe Imogen, deine Phantasie geht mit dir durch!« schnappte Charles. »Es war Raub – es muß Raub gewesen sein!«
Imogen atmete tief durch, beachtete ihren Mann nicht weiter und schaute Monk unverwandt mit ernstem Blick an. Sie wartete auf eine Antwort.
»Meiner Meinung nach war Erpressung im Spiel«, sagte Monk. »Oder es ging um eine Frau.«
»Erpressung!« stieß Charles entrüstet aus; er legte seinen gesamten Unglauben in dieses eine Wort. »Sie glauben, Grey hat jemanden erpreßt? Und womit, wenn ich fragen darf?«
»Wenn wir das wüßten, Sir, wüßten wir auch mit ziemlicher Sicherheit, wer der Täter ist, und der Fall wäre gelöst.«
»Folglich wissen Sie nichts.« Charles’ Spott kehrte zurück.
»Im Gegenteil, wir wissen eine Menge. Wir haben sogar einen Verdächtigen, doch solange wir nicht alle anderen Möglichkeiten ausgeschaltet haben, können wir nicht Anklage gegen ihn erheben.« Das war eine riskante Übertreibung, aber Charles’ blasiertes Gesicht, seine herablassende Art brachten Monk dermaßen in Rage, daß er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Am liebsten hätte er den Mann geschüttelt, um ihn aus seiner selbstgerechten Ruhe zu reißen.
»Dann begehen Sie einen schwerwiegenden Fehler.« Charles musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Was mich nicht im geringsten überrascht.«
»Genau das versuche ich zu vermeiden, Sir, indem ich so viele Informationen zusammentrage, wie ich bekommen kann. Ich bin überzeugt, Sie haben nichts dagegen.«
Monk sah aus den Augenwinkeln, daß Hester schmunzelte, und stellte verblüfft fest, daß es ihn tatsächlich freute.
Charles brummte etwas Unverständliches.
»Wir möchten Ihnen wirklich helfen«, sagte Imogen in das Schweigen hinein. »Mein Mann versucht nur, uns Unannehmlichkeiten zu ersparen, was ich sehr rücksichtsvoll von ihm finde. Aber da wir Joscelin außerordentlich gern hatten, sind wir bestimmt stark genug, uns Ihren Fragen zu stellen.«
»›Außerordentlich gern‹ ist ein wenig übertrieben, meine Liebe«, bemerkte Charles peinlich berührt. »Natürlich mochten wir ihn schon wegen George.«
»George?« Monk runzelte die Stirn; dieser Name fiel zum erstenmal.
»Mein jüngerer Bruder«, klärte Charles ihn auf.
»Und er kannte Major Grey?« fragte Monk eifrig. »Könnte ich ihn auch sprechen?«
»Ich fürchte, das ist unmöglich. Aber er kannte Grey recht gut. Die beiden standen sich eine Zeitlang ziemlich nahe.«
»Eine Zeitlang? Gab es Differenzen?«
»Nein, George ist tot.«
»Oh –« Monk stockte verlegen. »Mein aufrichtiges Beileid.«
»Danke.« Charles räusperte sich. »Wir mochten Grey, aber daß wir ihn über alle Maßen gern hatten, ist zuviel gesagt. Ich nehme an, meine Frau überträgt einen Teil unsrer Zuneigung zu George auf Georges Freunde.«
»Ich verstehe.« Monk wußte nicht, wie er fortfahren sollte. Hatte Imogen in Joscelin den Freund ihres toten Schwagers gesehen oder war auch sie seinem Witz und seinen Schmeicheleien erlegen? Wann immer sie von ihm sprach, nahmen ihre Züge einen leidenschaftlichen Ausdruck an, der ihn an Rosamond Shelburne erinnerte. Es war die gleiche Zärtlichkeit, der gleiche Widerhall gemeinsam erlebter Stunden voll Gelächter und Verzauberung, der sich darin spiegelte. War Charles blind gewesen – oder zu eingebildet, um es als das zu erkennen, was es war?
Ein häßlicher, gefährlicher Gedanke kam ihm in den Sinn und wurde auf der Stelle verdrängt. War nicht Rosamond die geheimnisvolle Frau gewesen, sondern Imogen Latterly? Monk verspürte den verzweifelten Drang, das Gegenteil zu beweisen. Aber wie? Wenn Charles für die Tatzeit ein nachweisbares Alibi hätte, wäre die lästige Frage ein für allemal aus der Welt geschafft.
Er starrte forschend in Charles’ glattes Gesicht. Der Mann stellte eine verärgerte, aber vollkommen unschuldige Miene zur Schau. Monk sann fieberhaft nach einem indirekten Weg, herauszufinden, wo er sich zur Zeit des Mordes aufgehalten hatte, aber sein Verstand arbeitete zäh und schwerfällig wie Kleister. Warum, in drei Teufels Namen, mußte Charles auch Imogens Mann sein!
Gab es eine andere Möglichkeit? Waren seine Befürchtungen unsinnig? Die Ausgeburt einer Phantasie, die durch den
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