Das Gesicht des Fremden
schnell, und er mußte weniger leiden als die meisten, die du sterben gesehen hast.« Auch dagegen war nichts einzuwenden.
Als Monk im Revier eintraf, erwartete Runcorn ihn bereits. Er saß hinter seinem Schreibtisch und blätterte in irgendwelchen Papieren, die er bei Monks Anblick zur Seite legte.
»Ihr Dieb war also ein Geldverleiher«, meinte er zynisch und schnitt eine Grimasse. »Die Presse ist nicht an Geldverleihern interessiert, das garantier ich Ihnen.«
»Das sollte sie aber!« blaffte Monk zurück. »Die Kerle sind schlimmer als eine Rattenplage; sie sind eins der abstoßendsten Symptome von Armut –«
»Du liebe Zeit! Wollen Sie sich für die Parlamentschaftswahlen aufstellen lassen, oder sind Sie Polizist? Wenn Ihnen Ihr Job am Herzen liegt, sollten Sie sich für eins von beiden entscheiden – und Polizisten werden eingestellt, weil sie Verbrechen aufklären sollen, nicht um hochmoralische Kommentare abzugeben.«
Monk funkelte ihn wütend an.
»Wenn wir nur einen Teil der Armut – samt der Schmarotzer, die daraus ihren Nutzen ziehen – beseitigen könnten, würde es vermutlich gar nicht mehr so viel aufzuklären geben.« Seine Hitzigkeit überraschte ihn selbst. Allmählich wußte er wieder, was Leidenschaft war, wenn ihm auch die Beweggründe dafür nach wie vor verborgen blieben.
»Joscelin Grey«, sagte Runcorn ungerührt; er hatte nicht vor, sich ablenken zu lassen.
»Ich arbeite daran.«
»Dann sind Ihrer Tatkraft erstaunlich enge Grenzen gesetzt!«
»Haben Sie vielleicht Beweise für Shelburnes Schuld?« fragte Monk gelassen. Er wußte, was Runcorn im Schilde führte, und war entschlossen, es bis zum bitteren Ende mit ihm durchzukämpfen. Falls Runcorn ihn tatsächlich zwingen sollte, Shelburne festzunehmen, bevor er dafür gewappnet war, würde er dafür sorgen, daß die Öffentlichkeit es für Runcorns Werk hielt.
Doch so leicht war Runcorn nicht aus der Reserve zu locken.
»Das ist Ihre Aufgabe«, erwiderte er säuerlich. »Es ist nicht mein Fall.«
»Das ist womöglich ein Fehler.« Monk hob nachdenklich die Brauen, als zöge er die Möglichkeit ernsthaft in Betracht. »Ja, vielleicht sollten Sie ihn übernehmen.«
Runcorns Augen wurden schmal. »Soll das heißen, Sie kommen nicht klar?« erkundigte er sich unglaublich sanft. »Daß diese Sache eine Nummer zu groß für Sie ist?«
Monk hielt seinen Bluff aufrecht.
»Wenn Shelburne der Mörder ist, ist sie es wahrscheinlich wirklich. Vielleicht sollten Sie die Verhaftung durchführen – schließlich sind Sie der Ranghöhere.«
Runcorns Gesicht fiel in sich zusammen, und Monk wurde von einer süßen Woge der Genugtuung erfaßt, die jedoch gleich wieder abebbte.
»Anscheinend haben Sie nicht nur das Gedächtnis, sondern auch die Nerven verloren«, sagte Runcorn, während er mühsam ein höhnisches Grinsen zustande brachte. »Geben Sie auf?«
Monk holte tief Luft.
»Ich habe gar nichts verloren – schon gar nicht meinen Verstand! Ich denke nicht im Traum dran, einen Mann festzunehmen, gegen den ich außer einem schwerwiegenden Verdacht nichts in der Hand habe. Wenn Sie das wollen, müssen Sie mir den Fall offiziell abnehmen und es selbst tun. Und helf Ihnen Gott, wenn Lady Fabia von dem Ganzen Wind bekommt. Dann kommt für Sie nämlich jede Hilfe zu spät, das garantiere ich Ihnen!«
»Feigling! Meine Güte, wie haben Sie sich verändert, Monk!«
»Wenn ich früher einen Menschen ohne stichhaltige Beweise hinter Gitter gebracht hätte, war eine Veränderung wohl bitter nötig. Nehmen Sie mir den Fall ab?«
»Ich gebe Ihnen noch eine Woche. Länger wird sich die Öffentlichkeit wohl kaum von Ihnen hinhalten lassen.«
»Von uns«, korrigierte Monk. »Soviel die Öffentlichkeit weiß, ziehen wir alle am selben Strang. Haben Sie jetzt vielleicht einen konstruktiven Vorschlag, zum Beispiel wie man Shelburne die Tat ohne Zeugen nachweisen kann? Oder wären Sie in dem Fall längst vorgeprescht und hätten die Angelegenheit selbst in die Hand genommen?«
Die Anspielung tat ihre Wirkung. Verblüffenderweise lief Runcorn vor Wut rot an; vermutlich fühlte er sich ertappt.
»Es ist, wie gesagt, Ihr Fall«, schnaubte er. »Ich werde Sie erst dann von ihm befreien, wenn Sie zu mir kommen und zugeben, daß Sie versagt haben, oder wenn ich von höherer Instanz dazu aufgefordert werde.«
»Gut. Dann werde ich jetzt weitermachen.«
»Tun Sie das. Tun Sie das, Monk – wenn Sie nicht zu blöd dazu sind!«
Der Himmel über der
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