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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Gedächtnisverlust über die Stränge schlagen konnte, weil sie nicht durch Erinnerungen in Schach gehalten wurde? Oder war es sein wiedererwachendes Gedächtnis, waren es gerade Erinnerungen, die diese Befürchtungen hervorriefen?
    Der Stock in Joscelin Greys Diele. Sein Bild hatte sich ihm auf ewig eingebrannt. Könnte er dieses Bild nur ausweiten, die Hand und den Arm, den ganzen Menschen sehen, der ihn hielt! Das war es, was ihm wie Blei im Magen lag: Er kannte den Besitzer des Stocks, und er wußte mit absoluter Sicherheit, daß er Lovel Grey nie zuvor begegnet war. In Shelburne Hall hatte man ihn nicht mit der geringsten Spur von Wiedererkennen empfangen. Und warum sollten sie so etwas vortäuschen? Es wäre sogar riskant gewesen, denn schließlich konnten sie nicht wissen, daß er das Gedächtnis verloren hatte. Lovel Grey war auf keinen Fall der Besitzer des Stocks mit den Messingbeschlägen am Knauf.
    Aber vielleicht Charles Latterly.
    »Waren Sie jemals in Major Greys Wohnung, Mr. Latterly?« Die Frage war heraus, ehe er recht wußte, wie ihm geschah. Er hatte das Gefühl, mit Charles Latterly um die Antwort zu pokern, und wollte sie plötzlich nicht mehr hören. Wenn das Ganze erst ins Rollen kam, würde er nicht mehr lockerlassen können, sei es auch nur, um für sich selbst Gewißheit zu haben.
    Charles sah ihn erstaunt an.
    »Nein. Wieso? Sie waren doch sicher selbst dort. Das geht nun wirklich zu weit!«
    »Sie waren niemals da?«
    »Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt. Es ergab sich keine Gelegenheit.«
    »Für die übrigen Familienmitglieder auch nicht, nehme ich an?« Monk wich den Blicken der Frauen aus; er war sich bewußt, daß die Frage taktlos, wenn nicht unverschämt klang.
    »Selbstverständlich nicht!« Charles beherrschte sich. Er schien etwas hinzufügen zu wollen, doch da ergriff Imogen das Wort.
    »Möchten Sie, daß wir Sie über unseren Verbleib zur Zeit von Joscelins Tod unterrichten, Mr. Monk?«
    Er sah sie vorsichtig an, konnte aber keine Spur von Sarkasmus in ihren Zügen entdecken. Sie hielt seinem Blick mit ihren unergründlichen Augen stand.
    »Mach dich nicht lächerlich, Imogen!« schnappte Charles, der langsam wieder in Wut geriet. »Wenn du nicht den nötigen Ernst für diese Angelegenheit aufbringen kannst, gehst du besser auf dein Zimmer!«
    »Es war mein völliger Ernst«, erwiderte sie und drehte sich ihrem Mann zu. »Falls es tatsächlich einer von Joscelins Freunden war, der ihn getötet hat, gehören wir natürlich auch zu den Verdächtigen. Es wäre sinnvoller, Charles, uns durch die Tatsache, daß wir zur fraglichen Zeit woanders gewesen sind, von diesem Verdacht zu befreien, als Mr. Monk klarzumachen, daß wir kein Motiv hatten, indem wir ihm Einblick in unsere Privatangelegenheiten gewähren.«
    Charles erbleichte; er starrte Imogen an, als wäre sie ein giftiges Insekt, das plötzlich unter dem Teppich hervorgekrochen war und ihn gebissen hatte. Monk spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.
    »Ich war bei Freunden zum Dinner eingeladen«, sagte er mit dünner Stimme.
    Nachdem ihm klargeworden war, daß er soeben eine Art Alibi zum besten gegeben hatte, sah er besonders elend aus. Monk konnte nicht anders – er mußte nachdenken.
    »Wo genau, Sir?«
    »In der Doughty Street.«
    Imogen schaute Monk offen und unschuldig an, nur Hester hatte sich abgewandt.
    »Welche Hausnummer, Sir?«
    »Ist das wichtig, Mr. Monk?« erkundigte sich Imogen arglos. Hester hob gespannt den Kopf.
    Monk erklärte mit einem Schuldbewußtsein, das ihn selbst überraschte: »Die Doughty Street mündet auf den Mecklenburg Square, Mrs. Latterly. Beides liegt nicht mehr als einen zwei bis dreiminütigen Fußmarsch auseinander.«
    »Ach«, sagte sie matt und blickte ihren Mann an.
    »Zweiundzwanzig«, preßte dieser zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich war den ganzen Abend dort, außerdem hatte ich keine Ahnung, daß Grey in der Nähe wohnte.«
    »Es fällt mir schwer, das zu glauben, Sir, da Sie ihm an diese Adresse geschrieben haben. Wir fanden unter seinen persönlichen Dingen einen Brief von Ihnen.«
    »Verdammt noch mal, ich –« Das Wort blieb Charles im Halse stecken.
    Monk wartete. Die Stille war so tief, daß er das Pferdegetrappel aus der übernächsten Straße zu hören vermeinte. Er vermied es, die Frauen anzusehen.
    »Ich wollte sagen –« versuchte Charles einen zweiten Anlauf und verstummte wieder.
    Monk hielt es nicht länger aus. Das Ganze war ihm entsetzlich

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