Das Gesicht des Fremden
Augen, aber ohne jede Spur eines Lächelns bei. »Vermutlich liegt’s an dem Skandal in seinem Haus; zieht natürlich die Aufmerksamkeit der verkehrten Leute auf sich und ist ausgesprochen schlecht für das gesellschaftliche Ansehen.«
»Er ist ohnehin alles andere als ein Gentleman«, lautete Monks unbarmherziges und promptes Urteil.
Evan gab vor, ihn nicht ganz zu verstehen, obschon das eine offenkundige Lüge war.
»Alles andere als ein Gentleman, Sir?« Er runzelte fragend die Stirn.
»Ganz recht. Jemand, der sich seines sozialen Status sicher ist, würde sich kaum durch einen Skandal aus der Ruhe bringen lassen, der ihn lediglich durch einen geographischen Zufall betrifft und nichts mit ihm persönlich zu tun hat. Es sei denn, er kannte Grey gut.«
»Tat er nicht, Sir«, erwiderte Evan, doch seine Augen verrieten, daß er absolut Monks Meinung war. Offensichtlich litt Scarsdale immer noch unter der Schande, die über Grey gekommen war, und Monk konnte sich das lebhaft vorstellen.
»Er stritt jede persönliche Beziehung zwischen ihnen ab, und das ist entweder eine Lüge oder doch sehr seltsam. Wenn er wirklich der Gentleman wäre, für den er sich ausgibt, hätte er Grey bestimmt besser gekannt oder zumindest hin und wieder ein paar Worte mit ihm gewechselt. Immerhin waren sie direkte Nachbarn.«
Monk hatte nicht die geringste Lust, um Mißerfolge zu buhlen.
»Selbst wenn er bloß versucht, seine gesellschaftliche Position zu wahren, sollte man dem nachgehen. Also weiter im Text«, sagte er und nahm sich wieder die Unterlagen vor, dann blickte er jäh auf. »Wer hat die Leiche überhaupt gefunden?«
»Die Putzfrau und der Portier, Sir. Ihre Aussagen decken sich, nur daß die des Portiers etwas ergiebiger ist, weil wir ihn selbstverständlich auch zu dem fraglichen Abend befragt haben.«
»Auch?« Monk fand sich kurzzeitig nicht zurecht.
Evan wurde vor lauter Ärger über seinen Mangel an klarer Ausdrucksweise rot.
»Die Leiche wurde erst am anderen Morgen entdeckt, als die Frau, die für Grey kochte und saubermachte, erschien und nicht in die Wohnung kam. Er hatte sich geweigert, ihr einen Schlüssel zu geben, offenbar traute er ihr nicht; er ließ sie immer persönlich rein, und wenn er nicht da war, ging sie einfach wieder und kam später zurück. Normalerweise hinterließ er in dem Fall eine Nachricht beim Portier.«
»Ich verstehe. Ging er oft weg? Ich nehme an, wir wissen wohin?« Monks Stimme klang plötzlich ungewollt herrisch und ungeduldig.
»Laut Portier verbrachte er die Wochenenden bisweilen woanders. Manchmal, während der Ferien, blieb er auch länger fort, ein oder zwei Wochen in irgendeinem Landhaus«, erwiderte Evan.
»Was geschah also, als Mrs. – wie heißt sie eigentlich – eintraf?«
Evan nahm beinahe Haltung an. »Huggins. Sie klopfte wie üblich an die Tür, und als sie nach dem drittenmal keine Antwort erhielt, ging sie nach unten zum Portier – Grimwade –, um nachzusehen, ob Grey eine Nachricht hinterlassen hatte. Grimwade sagte ihr, er hätte Grey am vergangenen Abend heimkommen und das Haus bisher nicht wieder verlassen sehen, und schickte sie wieder hinauf. Vielleicht wäre Grey ja im Bad oder ungewöhnlich fest eingeschlafen gewesen und würde inzwischen zweifellos oben am Treppengeländer stehen und ungeduldig auf sein Frühstück warten.«
»Was er natürlich nicht tat«, warf Monk überflüssigerweise ein.
»Nein. Ein paar Minuten später war Mrs. Huggins vollkommen aufgelöst und fürchterlich aufgeregt zurück – diese Frauen kommen ohne Dramatik einfach nicht aus – und verlangte, daß Grimwade endlich etwas unternehmen sollte. Mit unendlichem Genuß«, Evan grinste freudlos, »prophezeite sie, Grey würde dort oben bestimmt kaltblütig abgeschlachtet in seinem eigenen Blut liegen. Sie meinte, man müsse unbedingt etwas tun und die Polizei rufen. Das hat sie mir bestimmt ein halbes dutzendmal erzählt.« Er schnitt eine Grimasse. »Sie ist mittlerweile felsenfest davon überzeugt, daß sie das zweite Gesicht hat, und ich habe eine Viertelstunde lang auf sie eingeredet, damit sie die Putzerei nicht an den Nagel hängt, um den Leuten künftig die Zukunft vorauszusagen. Eins steht jedenfalls fest: Für das Lokalblatt – und zweifellos auch in der hiesigen Kneipe – ist sie längst eine Art Heldin!«
Jetzt mußte auch Monk lachen.
»Wieder eine vor einer steilen Karriere in einer Rummelplatzbude bewahrt und in den sicheren Dienst der Herrschaft
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