Das Gesicht des Fremden
wohl dran erinnern. Jedenfalls hat er ganz bestimmt nich gesagt, daß er Angst hat oder irgendwen erwartet.«
»Aber es waren am fraglichen Nachmittag und Abend doch ein paar Besucher hier?«
»Keine, die irgendwen ermorden wollten.«
»So, meinen Sie.« Monk zog die Augenbrauen hoch. »Sie wollen doch nicht etwa andeuten, Major Grey hätte eine Art bizarren Unfall gehabt? Oder daß es noch eine andere Alternative gibt – daß der Mörder sich nämlich bereits im Haus befand?«
Grimwades Gesichtsausdruck durchlief einen fliegenden Wechsel von Resignation über extremes Pikiertsein zu blankem Entsetzen. Er starrte Monk vollkommen verdattert an.
»Oder haben Sie vielleicht eine bessere Idee? Ich hab jedenfalls keine.« Monk seufzte. »Denken wir noch mal in Ruhe darüber nach. Sie sagten, nach Major Greys Ankunft wären noch zwei Personen gekommen: gegen sieben Uhr eine Frau und später dann, etwa um Viertel vor zehn, ein Mann. Also, Mr. Grimwade, zu wem wollte diese Frau, und wie sah sie aus? Und bitte – keine kosmetischen Alterationen um der lieben Diskretion willen!«
»Keine was?«
»Die Wahrheit, Mann!« schnappte Monk. »Es könnte verdammt unangenehm für Ihre Mieter werden, wenn wir der Sache auf eigene Faust auf den Grund gehen müßten.«
Grimwade funkelte ihn wütend an, hatte die Bedeutung dieser Worte jedoch absolut erfaßt.
»Eins der hiesigen Freudenmädchen, Sir. Molly Ruggles«, stieß er zwischen den Zähnen hervor, »’n hübsches Ding, rothaarig. Ich weiß auch, wo sie wohnt, und Sie verstehn doch bestimmt, daß ich mich sehr freun würd und mich Ihnen auch erkenntlich zeig, wenn Sie so diskret sind und nich verraten, von wem Sie wissen, daß die hier war, oder?« Er sah komisch aus, wie er versuchte, seine Abneigung aus dem Gesicht zu verbannen und gewinnend zu lächeln.
Monk unterdrückte ein hämisches Grinsen – er würde den Mann damit nur vor den Kopf stoßen.
»Einverstanden«, sagte er statt dessen; er tat es auch in seinem eigenen Interesse. Richtig behandelt, konnten Prostituierte nützliche Informanten sein. »Mit wem hatte sie ein Rendezvous?«
»Mit Mr. Taylor aus Nummer fünf, Sir. Sie besucht ihn ziemlich regelmäßig.«
»Und es war ganz sicher sie?«
»Bestimmt, Sir.«
»Haben Sie sie zu Mr. Taylors Wohnung begleitet?«
»O nein, Sir. Sie müßte den Weg inzwischen eigentlich kennen, und Mr. Taylor – na ja…« Er zog die Schultern hoch.
»Das war wohl wirklich ziemlich taktlos, finden Sie nich, Sir? Nich, daß ich etwa glaub, Takt war bei Leuten mit Ihrem Beruf besonders gefragt!« fügte er vielsagend hinzu.
»Nein, nicht besonders.« Monk lächelte leicht. »Sie haben Ihren Platz also nicht verlassen, als sie kam?«
»Nein.«
»War sonst noch eine Frau hier, Mr. Grimwade?« Er sah dem Portier direkt in die Augen.
Grimwade wich seinem Blick aus.
»Muß ich erst meine eigenen Nachforschungen anstellen?« versetzte Monk drohend. »Im ganzen Haus Polizisten verteilen, damit sie den Leuten nachspionieren?«
Grimwade war entsetzt; sein Kopf fuhr ruckartig hoch.
»Das dürfen Sie nich tun, Sir! Hier wohnen schließlich lauter feine Herren! Die würden sofort ausziehen – so was lassen die sich doch niemals gefallen!«
»Dann zwingen Sie mich nicht dazu.«
»Sie sind ein harter Mann, Mr. Monk.« Hinter Grimwades jammerndem Tonfall verbarg sich widerwilliger Respekt. Ein schwacher Trost.
»Ich will den Kerl finden, der Major Grey auf dem Gewissen hat«, erwiderte Monk. »Irgend jemand ging in dieses Haus, lief die Treppe hinauf, verschaffte sich Zutritt zu seiner Wohnung und schlug mit einem Stock auf ihn ein, immer wieder, bis er tot war und selbst dann ließ er nicht von ihm ab.« Er sah Grimwade zusammenzucken und spürte den bereits vertrauten Ekel auch in sich selbst hochsteigen. Er dachte an das grenzenlose Entsetzen, daß ihn in diesem Raum überfallen hatte. Konnten Mauern Geschehenes speichern? Konnten Gewalt und Haß auch nach der Tat noch die Atmosphäre vergiften und den Sensiblen, den Phantasievollen mit einem Hauch des stattgefundenen Grauens streifen?
Nein, lächerlich. Es war nicht der Phantasievolle, sondern der von Alpträumen Geplagte, der solche Dinge spürte. Er ließ zu, daß seine eigene Furcht und die Grabesstille, die seine Vergangenheit umhüllte, sich mit der Gegenwart vermischten und seine Urteilskraft trübten. Nur etwas mehr Zeit, einige Fragmente mehr, die ihm dabei halfen, seine neue Identität weiter auszubauen, dann
Weitere Kostenlose Bücher