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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Streit – beispielsweise wegen des Fahrpreises. Vielleicht hatte der Mann Grey nach oben begleitet, weil er einen Koffer oder ein Paket für ihn tragen mußte, die Wohnung gesehen – den Platz, die anheimelnde Wärme, den ganzen wertvollen Klunker – und war daraufhin in einem Anfall von Neid handgreiflich geworden. Er könnte betrunken gewesen sein; er wäre nicht der erste Kutscher, der sich etwas zu reichlich gegen Regen, Kälte und langweilige, einsame Stunden gewappnet hätte. Schließlich gingen die meisten seiner Kollegen an Bronchitis oder übermäßigem Alkoholkonsum zugrunde.
    Evan sah ihn immer noch unsicher an.
    Monk beschloß, die letzten Gedanken auszusprechen.
    »Wir müssen uns beim Portier noch einmal vergewissern, ob Grey das Haus tatsächlich allein betreten hat. Er könnte einen bepackten Kutscher zum Beispiel genauso leicht übersehen haben, wie man einen Postboten übersieht; solche Leute sind zu einer derart festen Einrichtung geworden, daß die Augen sie zwar sehen, das Gehirn aber nicht registriert.«
    »Möglich wär’s.« Evan klang allmählich überzeugter.
    »Vielleicht hat er sich auch im Auftrag eines andern die Adressen von allen wohlhabenden Fahrgästen notiert, bei denen eventuell was zu holen wäre. Als kleinen Nebenverdienst sozusagen.«
    »Ja, vielleicht.« Monk hatte das Gefühl, auf dem Bürgersteig langsam zu Eis zu erstarren. »Er würde das Haus zwar nicht so gut kennen wie der Junge, der den Müll abholt, wüßte aber eher, wann das Opfer nicht zu Hause ist. Nur daß es in Greys Fall gründlich danebenging – falls es sich tatsächlich so abgespielt hat.« Er schauderte. »Wahrscheinlich wäre es besser, dem Mann einen Besuch abzustatten, als ihn aufs Revier zu zitieren; er könnte nervös werden. Wissen Sie eigentlich, wie spät es schon ist? Kommen Sie, gehen wir in eine Schenke, essen eine Kleinigkeit und hören uns den neuesten Klatsch an. Anschließend gehen Sie zum Revier zurück und stellen fest, ob irgend etwas über diesen Kutscher vorliegt. Ich werde mir noch mal den Portier und ein paar Nachbarn vornehmen.«
    Die Schenke entpuppte sich als angenehmer, lärmender Ort. Man brachte ihnen Bier und Sandwich mit ausgesuchter Höflichkeit, behielt sie jedoch vorsichtshalber im Auge; zum einen waren sie fremd, zum andern sahen sie verdächtig nach Polizei aus. Das einzig Neue, was sie zu hören bekamen, waren ein paar deftige Zoten. Joscelin Grey schien das Lokal nicht mit seiner Anwesenheit beehrt zu haben, weshalb ihm auch kein spezielles Mitgefühl zuteil wurde, sondern lediglich jenes allgemeine Interesse, das ein makabres Ereignis wie Mord auf sich zieht.
    Evan begab sich nach dem kurzen Imbiß schnurstracks zur Polizeiwache, während Monk zum Mecklenburg Square und zu Grimwade zurückkehrte. Er begann noch einmal von vorn.
    »Jawohl, Sir«, sagte Grimwade geduldig. »Major Grey kam um Viertel nach sechs nach Hause, vielleicht auch etwas früher, und er sah genauso aus wie immer.«
    »Kam er mit einer Kutsche?« Monk wollte ganz sichergehen, daß er dem Mann die gewünschte Antwort nicht suggerierte.
    »Ja, Sir.«
    »Woher wissen Sie das? Haben Sie die Kutsche gesehen?«
    »Ja, Sir, das hab ich.« Grimwade konnte sich nicht recht entscheiden, ob er nun nervös oder gekränkt sein sollte. »Sie hielt genau hier vor der Tür; das war kein Abend, an dem man zu Fuß gegangen war, wenn man nich unbedingt mußte.«
    »Haben Sie auch den Kutscher gesehen?«
    »Also, ich versteh wirklich nich, was das soll!« Das klang allerdings beleidigt.
    »Haben Sie ihn gesehen?« beharrte Monk.
    Grimwade verzog das Gesicht. »Kann mich jedenfalls nich dran erinnern.«.
    »Ist er vielleicht abgestiegen, um Major Grey beim Tragen eines Koffers oder eines Pakets zu helfen?«
    »Nich daß ich wüßte – nein, isser nich.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ja, völlig sicher. Er hat keinen Fuß durch diese Tür gesetzt!« Damit war zumindest diese Theorie beim Teufel. Eigentlich war er zu alt, um deswegen enttäuscht zu sein, doch schließlich hatte er keinerlei Erfahrung, auf die er sich berufen konnte. Das meiste schien ihm ohnehin wie von selbst zuzufliegen, auch wenn der Großteil davon wahrscheinlich bloß gesunder Menschenverstand war.
    »Er ging allein nach oben?« versuchte er es ein letztes Mal, um auch den allerletzten Zweifel zu beseitigen.
    »Jawohl, Sir. Mutterseelenallein.«
    »Hat er etwas zu Ihnen gesagt?«
    »Weiß nich mehr. Wenn’s der Rede wert gewesen war, würd ich mich

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