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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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auch wenn es ihm nicht gelang, die beklemmende Vision ganz abzuschütteln, die ihn oben mit derartiger Heftigkeit überfallen hatte. Immerhin war sie einen Augenblick lang real genug gewesen, ihm den kalten Angstschweiß aus sämtlichen Poren zu treiben, und hatte ihm einen solch klaren Eindruck von der Brutalität der Tat vermittelt, daß ihm regelrecht schlecht geworden war und er vor Entsetzen gezittert hatte.
    Er strich sich mit bebender Hand über die nasse Wange. Der Wind peitschte schwere, harte Regentropfen vor sich her.
    Als Monk sich wieder zum Haus umwandte, sah er Evan hinter sich stehen. Falls dieser oben in der Wohnung das gleiche wahrgenommen haben sollte wie er, so war es ihm jedenfalls nicht anzumerken. Er schien verwirrt, ein wenig bedrückt, das war alles.
    »Ein brutaler Kerl«, wiederholte Monk Evans Worte mit steifen Lippen.
    »Ja, Sir«, bestätigte Evan feierlich und trat neben ihn. Er machte Anstalten, noch etwas zu sagen, überlegte es sich aber anders und fragte statt dessen: »Wo wollen Sie jetzt anfangen?«
    Es dauerte eine Weile, bis Monk das Chaos in seinem Kopf so weit im Griff hatte, daß er in der Lage war zu antworten. Sie gingen die Doughty in Richtung Guilford Street hinunter.
    »Bei den Zeugenaussagen. Ich werde sie noch einmal überprüfen«, meinte er schließlich und blieb jäh an der Bordsteinkante einer Straßenecke stehen, wo gerade ein Hansom vorbeiraste; unter den Rädern spritzte nach allen Seiten Regenwasser und Dreck weg. »Etwas Besseres fällt mir momentan nicht ein, also beginne ich erst einmal mit dem, das am wenigsten Erfolg verspricht. Da hätten wir den Straßenfeger.« Er deutete auf ein Kind, das wenige Meter vor ihnen emsig mit dem Aufkehren von Tierexkrementen beschäftigt war und währenddessen hastig nach einem Penny grapschte, den ihm jemand hingeworfen hatte. »Ist es derselbe?«
    »Ich glaube wohl, Sir. Ich kann sein Gesicht von hier aus nicht erkennen.« Mit diesen Worten beschönigte Evan den Umstand, daß die Gesichtszüge des Jungen unter einer dicken Schicht Dreck verborgen lagen; außerdem steckte die obere Hälfte seines Kopfes unter einer riesigen Stoffmütze, die ihm offenbar als Regenschutz diente.
    Monk und Evan betraten die Kreuzung und gingen auf ihn zu.
    »Na?« erkundigte sich Monk, als sie den Jungen erreicht hatten.
    Evan nickte.
    Monk durchforstete seine Manteltaschen nach Kleingeld; er fühlte sich verpflichtet, dem Kind den Verdienstausfall zu ersetzen, der ihm in der verlorenen Zeit entstehen würde. Er brachte eine Twopencemünze zum Vorschein und hielt sie ihm hin.
    »Ich bin von der Polizei, Alfred. Ich möchte gern mit dir über den Gentleman sprechen, der hier in Nummer sechs ermordet wurde.«
    Der Junge griff nach dem Geldstück.
    »Tja, ich hab dem andern Bullen schon alles gesagt, Mister. Sonst weiß ich nix.« Er zog die Nase hoch und schaute Monk hoffnungsvoll an. Zu einem Typen, der mit Twopencemünzen um sich warf, konnte man ruhig nett sein.
    »Schon möglich«, räumte Monk ein, »ich würde mich aber trotzdem gern mit dir unterhalten.« Der Karren eines Straßenhändlers polterte in Richtung Grey’s Inn Road an ihnen vorbei; er bespritzte sie mit Schlamm und warf fast direkt vor ihren Füßen einige Kohlblätter ab. »Warum gehen wir nicht auf den Bürgersteig?« erkundigte sich Monk, wobei er mühsam seinen Ärger unterdrückte. Seine guten Stiefel waren ruiniert, die Hosenbeine trieften vor Nässe.
    Der Junge nickte und dirigierte sie dann, als er ihre Ungeschicklichkeit im Ausweichen bemerkte, mit der nur echten Profis eigenen Herablassung für Amateure zur Bordsteinkante zurück.
    Dort angekommen, ließ er die Twopence irgendwo in den Falten seiner vier oder fünf Jacken verschwinden, meinte zuversichtlich:
    »Na, dann schießen Se mal los!« und zog noch einmal geräuschvoll die Nase hoch. Aus Respekt vor dem gesellschaftlichen Rang seiner Begleiter sah er davon ab, sie sich mit dem Ärmel abzuwischen.
    »Du hast Major Grey am Tag seines Todes heimkommen sehen?« begann Monk in angemessen feierlichem Ton.
    »Jawoll, und ihm is niemand gefolgt. Mir is jedenfalls keiner aufgefallen.«
    »War viel los auf der Straße?«
    »Nee, gar nich! War ’n ganz fieser Abend für Juli, hat gegossen wie aus Eimern. Kaum ’ne Menschenseele zu sehen, und wenn, sind se alle gerannt, so schnell se die Füße tragen konnten.«
    »Wie lang arbeitest du schon hier auf der Kreuzung?«
    »’n paar Jahre.« Die dünnen blonden

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