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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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konnte er fundierte Erinnerungen in die Realität miteinbeziehen. Seine Zurechnungsfähigkeit würde zurückkehren; er würde endlich wieder eine Vergangenheit haben, in der er selbst und andere Menschen einen festen Platz hatten.
    Oder war es möglich, daß ihn seine Erinnerungen bereits überfallen hatten – in wirrer, traumartig verzerrter Form? War es ein Echo der Schmerzen und der Furcht, die er empfunden haben mußte, als sich die Kutsche überschlug und ihn unter sich begrub, ein Widerhall der Entsetzensschreie, als das Pferd stürzte, der Kutscher kopfüber auf das Kopfsteinpflaster geschmettert wurde und mit gespaltenem Schädel liegenblieb? Ohne Zweifel hatte er Todesangst durchlebt und in den wenigen Sekunden, bis er in gnädige Bewußtlosigkeit gefallen war, einen heftigen, ja mörderischen Schmerz gespürt. War dieses Erlebnis der Grund für das Grauen, das ihn in Greys Wohnung überfallen hatte? Hatte es gar nichts mit Grey zu tun gehabt, sondern war lediglich eine aufblitzende Erinnerung an jene fürchterliche Erfahrung gewesen, lang bevor er sein ungetrübtes Wahrnehmungsvermögen wiedererlangt hatte?
    Er mußte um jeden Preis mehr über sich selbst in Erfahrung bringen, mußte herausfinden, was er in jener Nacht getan hatte, woher er gekommen war, wohin er gegangen war. Was war ihm im Leben wichtig gewesen, wen hatte er gemocht, wen nicht? Jeder Mensch hatte Beziehungen zu anderen, jeder hatte Gefühle und Begierden; jeder löste bei seinen Mitmenschen irgendwelche Regungen aus. Bestimmt gab es irgendwo Leute, die etwas für ihn empfanden, und zwar mehr als rein berufliche Rivalität – oder nicht? So farblos und unbedeutend konnte er nicht gewesen sein, daß er keinerlei Spuren im Herzen eines anderen hinterlassen hatte.
    Sobald sein Dienst beendet war, mußte er Grey vergessen und damit aufhören, dessen Leben Stück für Stück zu rekonstruieren. Er brauchte Zeit, um sich mit den wenigen Puzzleteilen seines eigenen beschäftigen und sie mit intuitivem Gespür zusammensetzen zu können – sofern er so etwas besaß.
    Grimwade harrte immer noch der Dinge, die da kommen würden, und sah ihn neugierig an. Es war ihm nicht entgangen, daß Monks Gedanken abgeschweift waren.
    Monk erwiderte den Blick.
    »Na, Mr. Grimwade?« Seine Stimme klang überraschend sanft. »Was für eine andere Frau?«
    Grimwade interpretierte den gedämpften Tonfall als Drohung.
    »Eine, die zu Mr. Scarsdale wollte, Sir; auch wenn der mir ’ne hübsche Stange Geld dafür gegeben hat, daß ich’s nich verrat.«
    »Um wieviel Uhr war das?«
    »So um acht.«
    Scarsdale hatte laut eigener Aussage gegen acht Uhr etwas auf dem Flur gehört. Spielte er damit auf seinen eigenen Besuch an, um kein Risiko einzugehen, falls jemand anders die Dame ebenfalls bemerkt hatte?
    »Gingen Sie mit ihr nach oben?« Er sah Grimwade scharf an.
    »Nein, Sir, sie meinte, sie war schon mal dagewesen und würd den Weg kennen. Außerdem wußte ich, daß sie erwartet wird.«
    Grimwade verzog den Mund zu einem anzüglichen Grinsen und setzte eine wissende Miene auf, ganz von Mann zu Mann.
    Monk grinste zurück. »Und um Viertel vor zehn? Da wollte ein Mann zu Mr. Yeats, sagten Sie. War der auch nicht zum erstenmal hier?«
    »Doch, Sir. Ich ging mit nach oben, weil er Mr. Yeats nich gut kannte und nich wußte, wo er hin mußte. Das hab ich Mr. Lamb aber gesagt.«
    »Ich weiß.« Monk verzichtete darauf, ihn ins Gebet zu nehmen, weil er Scarsdales Gast geflissentlich zu erwähnen vergessen hatte. Es würde seiner Sache nur schaden, wenn er den Mann noch mehr gegen sich aufbrachte. »Sie haben ihn also zu Mr. Yeats’ Wohnung begleitet?«
    »Jawohl, Sir.« Grimwade war wieder die Bestimmtheit in Person. »Und ich hab auch gesehen, wie Mr. Yeats ihm die Tür aufmachte.«
    »Wie sah er aus, dieser Mann?«
    Grimwade verdrehte die Augen. »Puh, ein Riese von einem Kerl war das, kräftig und – Mann!« Seine Kinnlade klappte hinunter. »Sie denken doch wohl nich, er hat’s getan?« Mit weit aufgerissenen Augen ließ er langsam den Atem entweichen.
    »Großer Gott – er muß es gewesen sein, wenn ich jetzt so drüber nachdenk!«
    »Vielleicht, ja«, stimmte Monk ihm vorsichtig zu. »Es wäre jedenfalls möglich. Würden Sie ihn wiedererkennen?«
    Grimwades Gesicht fiel zusammen. »Tja, jetzt haben Sie mich erwischt, Sir. Hab ihn nämlich nich von nahem gesehen, als er hier unten war, und auf der Treppe war’s viel zu dunkel, da mußte ich auf meine Füße

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