Das Gesicht des Fremden
aufpassen. Er hatte so ’nen dicken Mantel an, schließlich war’s ganz eklig draußen und hat in Strömen gegossen. Sie wissen schon, so ’n Wetter, wo man den Mantelkragen so weit wie möglich hoch und den Hut so weit wie möglich runterzieht. Ich glaub, er hatte dunkle Haare, und mit seinem Bart kann’s nich allzuweit hergewesen sein, sonst war er mir aufgefallen; mehr kann ich nich sagen.«
»Er war also höchstwahrscheinlich dunkelhaarig und glattrasiert.« Monk gab sich alle Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Er mußte verhindern, daß sich der Mann aus lauter Angst, ihn zu verärgern, etwas Gefälliges ausdachte, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach.
»Er war wirklich kräftig gebaut, Sir«, gab Grimwade hoffnungsvoll zu bedenken, »und ziemlich groß, mindestens einsachtzig. Damit fallen doch ’ne Menge Leute aus, oder?«
»Ja, ja, das tun sie«, versicherte Monk. »Wann ist er wieder gegangen?«
»Hab aus den Augenwinkeln gesehen, Sir, wie er an meinem Fenster vorbeigekommen ist. Das muß so halb elf oder vielleicht ’n bißchen früher gewesen sein.«
»Sie haben ihn nur aus den Augenwinkeln gesehen? Sind Sie sicher, daß er es war?«
»Er muß es gewesen sein! Er hat das Haus weder davor noch danach verlassen, außerdem sah er genauso aus: selber Hut, selber Mantel, selbe Größe. Hier wohnt sonst keiner, der so aussieht.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nein, er schien’s eilig zu haben. Wahrscheinlich wollte er schnellstens nach Hause. Wie gesagt, draußen war’s an dem Abend ganz eklig, da hätte man nicht mal ’n Hund vor die Tür gejagt.«
»Ja, das sagten Sie schon. Schön, Mr. Grimwade, erst mal vielen Dank. Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, sagen Sie’s mir, oder hinterlassen Sie auf dem Polizeirevier eine Nachricht für mich. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Sir«, erwiderte Grimwade aus tiefstem Herzen erleichtert.
Monk beschloß, auf Scarsdale zu warten, ihn zunächst mit seiner Lüge bezüglich der Frau zu konfrontieren und dann nach Möglichkeit etwas mehr über Joscelin Grey aus ihm herauszubekommen. Er stellte einigermaßen erstaunt fest, daß er außer der Art und Weise, wie Grey ums Leben gekommen war, rein gar nichts über den Mann wußte. Greys Leben war ein genauso unbeschriebenes Blatt für ihn wie sein eigenes. Er war ebenfalls nicht mehr als eine schemenhafte Gestalt, deren einzige Charakterisierung in ein paar wenigen physischen Fakten bestand. Und bei einem Menschen hatte Grey mit Sicherheit Antipathie geweckt, und zwar bei demjenigen, der ihn erst totgeschlagen und danach wieder und wieder auf ihn eingedroschen hatte, selbst als es längst nicht mehr nötig war. Hatte Grey etwas an sich gehabt – bewußt oder unbewußt –, das derartigen Haß erzeugen konnte, oder war er nur der Katalysator für etwas gewesen, mit dem er nichts zu tun gehabt hatte, und dem zum Opfer gefallen?
Monk schlenderte über den Platz und machte eine Sitzgelegenheit ausfindig, von der aus er den Eingang von Nummer sechs bequem im Auge behalten konnte.
Es dauerte über eine Stunde, bis Scarsdale endlich in Sichtweite kam. Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt, und die Luft war stark abgekühlt, aber Monk hatte sich zum Warten gezwungen, weil ein Gespräch mit dem Mann sehr wichtig für ihn sein konnte.
Scarsdale war zu Fuß, und Monk nahm die Verfolgung auf bis in die Eingangshalle, wo er sich von Grimwade bestätigen ließ, daß es sich tatsächlich um Scarsdale handelte.
»Ja, Sir, er ist es«, bescheinigte er widerstrebend, doch Monk interessierte sich momentan wenig für das weitere Schicksal des Portiers.
»Soll ich Sie hinbringen?«
»Nicht nötig, danke. Ich finde den Weg schon.« Mit diesen Worten war er auch schon bei der Treppe, nahm jeweils zwei Stufen auf einmal und traf genau in dem Augenblick auf dem entsprechenden Treppenabsatz ein, als die Tür ins Schloß fiel. Er marschierte mit großen Schritten auf sie zu und klopfte forsch an. Nach kurzem Zögern wurde die Tür geöffnet. Während Monk seinen Dienstausweis vorzeigte, erklärte er in knappen Worten sein Anliegen.
Scarsdale war keineswegs erfreut, ihn zu sehen. Er entpuppte sich als kleiner, drahtiger Mann, dessen angenehmstes körperliches Merkmal in einem blonden Schnurrbart bestand, mit dem sich weder die leichte Stirnglatze noch seine mittelmäßigen Gesichtszüge messen konnten. Er war ausgesprochen schick, fast übertrieben pingelig gekleidet.
»Tut mir leid, ich
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