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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Augenbrauen wanderten verblüfft nach oben; mit dieser Frage hatte der Junge offensichtlich nicht gerechnet.
    »Dann kennst du bestimmt die meisten Leute, die hier in der Gegend wohnen?«
    »Klar, ich denk schon.« Plötzlich blitzte in seinen Augen Verstehen auf. »Sie meinen, ob ich jemand gesehen hab, der nich hierher gehört?«
    Monk nickte beifällig angesichts soviel Klugheit. »Den Nagel auf den Kopf getroffen.«
    »Dem haben se den Schädel eingeschlagen, nicht wahr?«
    »Ja.« Monk zuckte innerlich zusammen; die Floskel paßte leider nur allzugut.
    »Dann sind Se also nich hinter ’ner Frau her?«
    »Nein«, bestätigte Monk und dachte im selben Moment, daß der Täter durchaus ein als Frau verkleideter Mann gewesen sein konnte – falls Greys Mörder kein Fremder gewesen war, sondern jemand, der ihn kannte, der Zeit genug gehabt hatte, im Lauf der Jahre den enormen Haß in sich aufzustauen, der in jedem Winkel dieses unheilvollen Zimmers zu lauern schien.
    »Es sei denn, sie war sehr groß«, fügte er hinzu, »und sehr stark.«
    Der Junge unterdrückte ein anzügliches Grinsen. »Die, die ich gesehen hab, war von der kleinen Sorte. Die meisten Frauen gehn doch sowieso bloß in hochmodernen Klamotten raus, worin se so hübsch wie möglich aussehen oder doch wenigstens so, wie ’ne richtige Frau aussehen soll. Große, starke Flittchen laufen hier nicht rum und Frauen, die wie Putzlappen aussehen, schon gar nich!«
    Er zog vielsagend die Nase hoch und die Mundwinkel zum Zeichen seiner Mißbilligung grimmig nach unten. »Nur erstklassige, wie se sich die feinen Herren hier leisten können.« Er machte eine ausladende Handbewegung über die stattlichen Häuserfronten.
    »Ich verstehe.« Monk ließ sich seine Belustigung nicht anmerken. »Und du hast gesehen, wie eine solche Frau an jenem Abend in Nummer sechs verschwand?« Vermutlich hatte es nichts zu bedeuten, aber schließlich mußten sie bei diesem Stand der Ermittlungen jedem Hinweis nachgehen.
    »Keine, die das nich regelmäßig getan hat, Mister.«
    »Um wieviel Uhr?«
    »Gerade, als ich nach Hause gehn wollte.«
    »Um halb sieben?«
    »Stimmt genau.«
    »Und davor?«
    »Sie meinen nur die, die in Nummer sechs reingegangen sind?«
    »Ja.«
    Der Junge schloß die Augen und dachte angestrengt nach; er gab sich alle Mühe, gefällig zu sein, denn vielleicht sprang ja noch ein Twopencestück heraus. »Ein so ’n Herr aus Nummer sechs kam zusammen mit ’nem andern nach Hause, ’n kleinerer Typ mit so ’nem Kragen, der wie ’n Pelz mit ganz viel Locken aussieht.«
    »Astrachan?« schlug Monk vor.
    »Keine Ahnung, wie so was heißt. Jedenfalls ging er so um sechs Uhr rein und kam nich wieder raus. Hilft Ihnen das, Mister?«
    »Durchaus möglich. Ich muß mich wirklich sehr bei dir bedanken.« Monk klang vollkommen ernst; er gab dem Jungen zu Evans größter Überraschung noch einen Penny und schaute ihm nach, wie er sich fröhlich in den Verkehr auf der Durchgangsstraße stürzte und seine Pflichten wieder aufnahm.
    Evans Gesicht war in nachdenkliche, grüblerische Falten gelegt, aber Monk traute sich nicht zu fragen, ob nun die Antworten des Jungen dafür verantwortlich waren oder ein Rätselraten über die Vermögensverhältnisse seines Vorgesetzten.
    »Das Mädchen mit den Bändern ist heute nicht da.« Evans Augen suchten den Bürgersteig längs der Guilford Street ab.
    »Wen wollen Sie sich als nächstes vornehmen?«
    Monk überlegte einen Moment. »Was ist mit dem Kutscher?
    Ich nehme an, wir haben seine Adresse?«
    »Schon, Sir, aber ich bezweifle, daß er jetzt zu Hause ist.« Monk drehte sich um; Nieselregen und schneidender Ostwind schlugen ihm ins Gesicht. »Wenn er nicht zufällig krank ist, ja«, stimmte er Evan zu. »Ein glänzender Tag fürs Geschäft. Bei diesem Wetter geht niemand freiwillig zu Fuß.« Das gefiel ihm – es klang intelligent und war doch nur gesunder Menschenverstand. »Wir werden ihm eine Ladung aufs Revier schicken, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, daß er seiner Aussage noch irgend etwas hinzufügen könnte.« Er grinste sarkastisch. »Es sei denn natürlich, er hat Grey selbst ins Jenseits befördert.«
    Evan starrte ihn mit großen Augen an; er war sich offenbar nicht sicher, ob Monk nur Spaß machte. Der stellte plötzlich fest, daß er es selbst nicht genau wußte. Es gab keinen Grund, dem Kutscher zu glauben. Vielleicht hatte es ein hitziges Wortgefecht zwischen den beiden gegeben, irgendeinen dummen

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