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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wissen, Sir. Dann nehmen Se die Straße nach links, dann laufen Se genau drauf zu.«
    Monk bedankte sich noch einmal und machte sich auf den Weg.
    Er brauchte nur fünfzehn Minuten vom Bahnhof bis zu dem Tor, das den Besitz von der Außenwelt trennte. Das Anwesen entpuppte sich wahrlich als überwältigend; das im frühgeorgianischen Stil erbaute Wohnhaus war drei Stockwerke hoch und verfügte über eine ganz entzückende Fassade, die an manchen Stellen mit blühenden Weinranken und Kletterpflanzen bewachsen war. Ein befahrbarer, gewundener Weg führte zum Haus hin. Er war mit den gleichen Zedern und Birken gesäumt, die das gesamte parkartige Grundstück sprenkelten, das sich bis zu den in der Ferne erkennbaren Feldern und einem – vermutlich hauseigenen – Gut ausdehnte.
    Monk stand unter dem Tor und ließ den Anblick einige Minuten auf sich wirken. Die harmonische Symmetrie, die Art und Weise, wie der Besitz die Gegend schmückte – all das war nicht nur ausgesprochen schön anzusehen, sondern ließ auch einiges über das Wesen der Menschen ahnen, die dort geboren und aufgewachsen waren.
    Schließlich machte er sich an das letzte Drittel seines Weges, die beträchtliche Strecke bis zum eigentlichen Wohnhaus. Dort angekommen, umrundete er die Außengebäude und Ställe bis zum Dienstboteneingang. Ein reichlich unfreundlicher Lakai trat ihm in den Weg.
    »Wir kaufen nichts«, sagte er kalt und mit einem Seitenblick auf Monks Koffer.
    »Das trifft sich gut, ich habe nämlich nichts zu verkaufen«, gab Monk bissiger als beabsichtigt zurück. »Ich bin von der Metropolitan Police. Lady Shelburne wünschte einen Bericht über die Fortschritte, die wir bei den Ermittlungen hinsichtlich Major Greys Tod gemacht haben. Ich bin gekommen, um ihn ihr zu liefern.«
    Die Brauen des Lakais gingen in die Höhe.
    »Tatsächlich? Dann muß es sich um die Witwe Shelburne handeln. Werden Sie erwartet?«
    »Nicht daß ich wüßte. Vielleicht sagen Sie ihr, daß ich hier bin.«
    »Na, Sie kommen wohl besser rein.« Widerstrebend hielt er die Tür auf. Monk trat ein. Der Mann verschwand ohne weitere Erklärung und ließ ihn in der rückwärtigen Eingangshalle stehen. Diese war eine kleinere, kahlere und zweckmäßiger ausgestattete Version der vorderen Halle; die Gemälde fehlten, das Mobiliar war nach praktischen Gesichtspunkten ausgesucht – angemessen den Bedürfnissen der Dienerschaft. Vermutlich war der Lakai aufgebrochen, um eine höhergestellte Person zu Rate zu ziehen, den Alleinherrscher über den Dienstbotenbereich oder den Butler. Es dauerte mehrere Minuten, bis er zurück war und Monk mit einer Handbewegung aufforderte, ihm zu folgen.
    »Lady Shelburne wird Sie in einer halben Stunde empfangen.« Diesmal ließ er Monk in einem kleinen Salon zurück, der an das Domizil des Hausmeisters grenzte, dem passenden Ort für solche Leute wie Polizisten.
    Nachdem der Lakai verschwunden war, begann Monk langsam in dem Raum umherzugehen. Er besah sich die abgenutzten Möbel, die braun aufgepolsterten Stühle mit den gebogenen Beinen, einen Tisch und eine Anrichte, beides aus Eichenholz. Die Papiertapete war verblichen, die Bilder namenlos – übertrieben sittenstrenge Erinnerungen an die soziale Stellung und die Tugendhaftigkeit der Pflichterfüllung. Monk persönlich war der saftige Rasen mit den mächtigen Bäumen, der jenseits der Fensterscheibe schräg zu einem Zierbrunnen hin abfiel, wesentlich lieber.
    Er fragte sich, was für eine Frau das sein mochte, die eher dreißig endlose Minuten lang verbissen ihre Neugier zügelte, als einem gesellschaftlich unter ihr Stehenden ein Fünkchen ihrer Würde zu opfern. Lamb hatte sie mit keinem Wort erwähnt. War es möglich, daß er sie gar nicht zu Gesicht bekommen hatte? Je länger Monk darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm. Lady Shelburne würde ihre Anfragen niemals an einen einfachen Polizisten richten; außerdem hatte es keinen Grund gegeben, ihr Fragen zu stellen.
    Monk hatte allerdings genau das vor; falls Grey nicht von einem Wahnsinnigen, sondern von einem Bekannten umgebracht worden war – den man lediglich insofern als verrückt bezeichnen konnte, als er sein Temperament so sehr mit sich hatte durchgehen lassen, daß ein Mord dabei herauskam –, war es unerläßlich, Grey besser kennenzulernen. Ob beabsichtigt oder nicht, Greys Mutter würde bestimmt etwas über ihn verraten, in ihrem Kummer und im Gedenken an ihn etwas preisgeben, das seiner

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