Das Gesicht des Fremden
sich hinter diesen Worten verbarg.
»Wann könnte ich mit Lord Shelburne sprechen? Und mit jedem andern, der Major Grey gut kannte?«
»Ich frage mich, warum Sie das nicht längst getan haben, wenn es dermaßen wichtig ist.« Sie ging zur Tür. »Warten Sie hier. Ich werde mich erkundigen, ob er die Zeit erübrigen kann, mit Ihnen zu sprechen.« Mit diesen Worten marschierte sie aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzublicken.
Monk setzte sich so, daß er aus dem Fenster schauen konnte. Draußen lief gerade eine Frau in einem einfachen Stoffkleid vorbei; auf dem Arm trug sie einen Korb. Einen verrückten Augenblick lang wurde er von einer Erinnerung heimgesucht. Vor seinem geistigen Auge sah er ein Kind, ein Mädchen mit dunklen Haaren, und eine Kopfsteinpflasterstraße, die zum Wasser hinabführte. Er kannte die Gegend, aber etwas fehlte; er grübelte angestrengt nach, und dann fiel ihm ein, daß es der Wind war, der Wind und Geschrei der Möwen. Es war die Erinnerung an eine glückliche Zeit, eine Zeit völliger Geborgenheit. Die Kindheit? Erinnerte er sich vielleicht an seine Mutter, an Beth?
Doch da war es bereits vorbei. Er gab sich alle Mühe, die Vision zurückzuholen, sie klarer und detaillierter zu sehen – vergebens. Er war ein Erwachsener in Shelburne, der sich mit dem Mord an Joscelin Grey herumschlagen mußte.
Eine weitere Viertelstunde verging, ehe sich die Tür auftat und Lord Shelburne hereinschritt. Er war achtunddreißig bis vierzig Jahre alt und, nach Joscelins Beschreibung und Kleidung zu urteilen, etwas stärker gebaut als sein Bruder. Monk überlegte, ob Joscelin ebenfalls diese selbstsichere, fast unbewußt überlegene Ausstrahlung besessen haben mochte. Lovel Greys Haar war dunkler als das seiner Mutter, sein Gesicht sensibler und ohne jede Spur von Sinn für Humor.
Monk sprang dem Anstand zuliebe auf die Füße – und haßte sich dafür.
»Sie sind der Bursche von der Polizei?« fragte Shelburne mit leichtem Stirnrunzeln. Da er sich nicht hinsetzte, blieb Monk keine andere Wahl, als ebenfalls stehenzubleiben. »Und – was wollen Sie? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Ihnen irgend etwas, das ich über meinen Bruder zu sagen habe, dabei helfen soll, den Psychopathen zu finden, der bei ihm eingebrochen und ihn getötet hat, den armen Teufel.«
»Niemand ist eingebrochen, Sir«, berichtigte Monk. »Wer immer es war, Major Grey ließ ihn aus freien Stücken herein.«
»Ach wirklich?« Die waagerechten Augenbrauen hoben sich ein paar Millimeter. »Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich.«
»Dann sind Sie mit den Fakten nicht vertraut, Sir.« Monk ärgerte sich über die arrogante, herablassende Art dieses Mannes, der offenbar glaubte, er verstünde mehr von Monks Job als der selbst, nur weil er ein Mann von Stand war. Hatte er Geringschätzung schon immer schlecht vertragen? Fuhr er leicht aus der Haut? Runcorn hatte so etwas angedeutet. Seine Gedanken flogen zum vergangenen Tag zurück, zu der Frau in der Kirche. Er sah ihr Gesicht deutlich vor sich, erinnerte sich an das Rascheln ihres Taftrockes, den schwachen, fast imaginären Duft ihres Parfüms, den verblüfften Ausdruck in ihren Augen. Es war eine Erinnerung, die sein Herz schneller schlagen, seine Kehle vor Erregung eng werden ließ.
»Ich weiß, daß mein Bruder von einem Geistesgestörten erschlagen wurde.« Shelburnes Stimme sauste wie ein Fallbeil auf seine Gedanken nieder, zertrümmerte sie in tausend Stücke.
»Und daß Sie den Kerl noch nicht geschnappt haben. Das sind die Fakten!«
Monk zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart zu richten.
»Bei allem Respekt, Sir«, er wählte seine Worte bewußt taktvoll, »wir wissen zwar, daß er erschlagen wurde, wir wissen jedoch nicht, von wem oder weshalb. Es weist nichts darauf hin, daß sich der Mörder gewaltsam Zutritt zu seiner Wohnung verschafft hat. Die einzige verdächtige Person, die das Gebäude betreten hat, scheint jemand anders aufgesucht zu haben. Wer immer über Major Grey hergefallen ist, hat allergrößte Sorgfalt darauf verwendet und unseres Wissens nichts gestohlen.«
»Und daraus schließen Sie, daß es jemand war, den er kannte?« Shelburne blieb skeptisch.
»Daraus und aus der Brutalität, mit der das Verbrechen begangen wurde«, bestätigte Monk. Shelburne stand ihm schräg gegenüber, so daß er sein Gesicht in dem Licht, das durchs Fenster fiel, gut sehen konnte. »Ein Einbrecher drischt nicht immer
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