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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Wunsch, mir Ihre philosophischen Betrachtungen anzuhören. Mir tun die Menschen leid, die in der Gosse leben, weiß der Himmel warum, aber sie interessieren mich nicht. Was beabsichtigen Sie zu unternehmen, um dieses Wahnsinnigen, der meinen Sohn ermordet hat, habhaft zu werden? Wer ist er?«
    »Wir wissen nicht –«
    »Was werden Sie unternehmen, um es herauszufinden?« Falls unter der exquisiten Oberfläche Gefühle existierten, war sie wie Generationen ihres Standes von Kindesbeinen an darauf getrimmt worden, sie zu verbergen, niemals eine Schwäche zu zeigen. Beherztheit und guter Geschmack waren ihre Hausgötter, für sie war kein Opfer zu groß oder wurde je in Frage gestellt, sondern tagtäglich und ohne zu murren dargebracht.
    Monk schlug Runcorns Mahnungen in den Wind und fragte sich, wie oft er das in der Vergangenheit bereits getan haben mochte. Runcorns Ton hatte an diesem Morgen eine Schärfe gehabt, hinter der mehr stecken mußte als bloße Frustration über seinen Mißerfolg im Mordfall Grey oder Lady Shelburnes diesbezüglichen Brief.
    »Unserer Ansicht nach handelt es sich bei dem Täter um jemanden, der Major Grey kannte«, antwortete er, »und seinen Tod sorgfältig geplant hat.«
    »Dummes Zeug!« kam es wie aus der Pistole geschossen.
    »Weshalb sollte jemand, der meinen Sohn kannte, den Wunsch gehabt haben, ihn zu töten? Er war ein durch und durch reizender Mensch; alle mochten ihn, sogar die, denen er nicht nahestand.« Lady Fabia stand auf und ging zum Fenster hinüber. Mit halb angewandtem Rücken blickte sie hinaus. »Für Sie ist das vielleicht nicht leicht zu verstehen. Sie sind ihm nie begegnet. Lovel, mein ältester Sohn, besitzt eine Menge Ernsthaftigkeit, Verantwortungsgefühl und eine Art natürlicher Begabung, Leute zu führen. Menard kann ausgezeichnet mit Zahlen und Fakten umgehen; er ist imstande, aus allem Profit zu schlagen. Aber es war Joscelin, der einen zum Lachen bringen konnte, Joscelin, der vor Charme sprühte.« Ihre Stimme geriet kaum merklich ins Stocken, klang andeutungsweise ehrlich bekümmert. »Menard kann nicht singen, wie Joscelin es konnte – und Lovel fehlt jegliche Phantasie. Er wird einen hervorragenden Hausherren abgeben, den Besitz glänzend verwalten, zu jedem gerecht sein – aber, mein Gott…«, ihr Ton wurde plötzlich hitzig, fast leidenschaftlich, »verglichen mit Joscelin ist er ein solcher Langweiler!«
    Monk ging der Kummer über den Verlust des geliebten Sohnes nahe, der aus ihren Worten herausklang. Sie war einsam, hatte das Gefühl, daß etwas unersetzbar Wohltuendes aus ihrem Leben verschwunden war und ein Teil von ihr nur noch zurückschauen konnte.
    »Es tut mir leid«, sagte er wahrheitsgemäß. »Ich weiß, es bringt ihn nicht zurück, aber wir werden den Täter finden, und er wird seine Strafe erhalten.«
    »Den Strang«, erwiderte sie tonlos. »Man wird ihn eines Morgens nach draußen schaffen, und ein Seil wird ihm das Genick brechen.«
    »Ja.«
    »Das nützt mir wenig.« Sie wandte sich wieder zu ihm. »Aber es ist besser als nichts. Sorgen Sie dafür, daß es bald geschieht.«
    Damit war er offenbar entlassen, aber er war noch nicht bereit zu gehen. Es gab noch einiges, das er wissen mußte. Er stand ebenfalls auf.
    »Das habe ich vor, Ma’am, aber ich brauche Ihre Hilfe –«
    »Meine?« Ihr Tonfall drückte sowohl Erstaunen als auch Mißfallen aus.
    »Jawohl, Ma’am. Um herauszufinden, wer Major Grey genügend gehaßt hat, um ihm den Tod zu wünschen« – er erntete einen ärgerlichen Blick – »aus welchem Grund auch immer. Auch die prächtigsten Menschen sind nicht gegen Neid, Habgier und Eifersucht gefeit…«
    »Schon gut, Sie haben mich überzeugt!« Sie kniff die Augen zusammen, wodurch ihre Muskelstränge ihres dünnen Halses deutlich hervortraten. »Wie ist Ihr Name?«
    »William Monk.«
    »Aha. Und was, Mr. Monk, ist es, das Sie unbedingt über meinen Sohn wissen möchten?«
    »Zuerst würde ich gern den Rest der Familie kennenlernen.« Lady Fabia zog leicht amüsiert die Brauen hoch.
    »Sie halten mich für voreingenommen, Mr. Monk?« erkundigte sie sich spöttisch. »Denken Sie, ich hätte Ihnen etwas verschwiegen?«
    »Wir zeigen denen, die wir am meisten mögen – und die uns gern haben –, häufig nur unsere schmeichelhaften Seiten«, gab er gelassen zurück.
    »Wie außerordentlich scharfsinnig von Ihnen«, bemerkte sie mit beißendem Sarkasmus. Er versuchte sich vorzustellen, wieviel gut kaschierter Schmerz

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