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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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beschwert –, gäb’s nur wenige, denen Ihre Degradierung leid tun würde… Und Schlimmeres natürlich, wenn sich herausstellt, daß der Mörder tatsächlich zur Familie gehört, und Sie ihn festnehmen müssen –«
    Sein Vorgesetzter starrte ihn an, doch diesmal wich Evan dem Blick nicht aus. Es überlief Monk siedendheiß.
    »Einschließlich Runcorn?« fragte er ruhig.
    »Ich denke schon.«
    »Und Sie?«
    Wieder war Evan ehrlich überrascht. »Nein, ich nicht«, sagte er schlicht. Er erging sich nicht in Protestgeschrei, weshalb Monk ihm um so mehr glaubte.
    »Gut.« Er holte tief Luft. »Für heute reicht’s. Um Yeats kümmern wir uns morgen.«
    »In Ordnung, Sir.« Evan grinste, der Schatten auf seinem Gesicht war verflogen. »Um acht bin ich hier.«
    Monk schrak innerlich zusammen, als er die Uhrzeit hörte, mußte sich aber wohl oder übel damit einverstanden erklären. Er wünschte Evan einen angenehmen Abend und machte sich auf den Heimweg.
    Unbemerkt schlug er jedoch die entgegengesetzte Richtung ein. Er registrierte erst nach einer ganzen Weile, daß er auf die Gegend um die St.-Marylebone-Kirche zusteuerte. Es war eine Strecke von mehr als drei Kilometern, und er war müde. Seine Beine taten ihm noch von dem langen Fußmarsch in Shelburne weh, seine Füße waren wund gelaufen, also hielt er eine Kutsche an und nannte dem Fahrer die Adresse der Kirche.
    Dort war es sehr still. Durch die in Windeseile dunkler werdenden Fenster drang kaum noch Helligkeit, lediglich die Kandelaber warfen kleine, gelbe Lichtbögen in den Raum.
    Warum die Kirche? Er fand all die Ruhe, allen Frieden, den er sich wünschte, in seinen eigenen vier Wänden, und große Gottesfürchtigkeit hatte ihn bestimmt nicht getrieben. Monk glitt in eine der Bankreihen und grübelte darüber, was er an diesem Ort zu suchen hatte.
    Nachdem er bereits wer weiß wie lang ohne jegliches Zeitgefühl reglos im Dunkeln gesessen hatte, wie immer auf der Suche nach irgendeiner Erinnerung – einem Gesicht, einem Namen, einem Gefühl –, sah er plötzlich nur wenige Meter entfernt die junge Frau in Schwarz.
    Er konnte es nicht fassen. Sie erschien ihm so voller Leben, so unglaublich vertraut. Faszinierte sie ihn lediglich, weil sie ihn an etwas erinnerte, das er um jeden Preis wieder fühlen wollte?
    Im Grunde war sie nicht schön, nicht wirklich. Der Mund war zu groß, die Augen lagen zu tief – und aus eben diesen Augen schaute sie ihn nun an.
    Monk bekam plötzlich Angst. Kannte er sie? War es unverzeihlich flegelhaft von ihm, sie nicht anzusprechen? Aber wahrscheinlich kannte er Dutzende von Leuten aus allen möglichen Gesellschaftsschichten! Sie konnte alles sein, von der Pfarrerstochter bis zur Prostituierten!
    Nein, ausgeschlossen bei dem Gesicht.
    Blödsinn, natürlich konnten auch Huren ein nettes Gesicht mit strahlenden Augen haben – zumindest solange sie jung waren und das Leben noch keine sichtbaren Spuren auf der äußeren Hülle hinterlassen hatte.
    Ohne sich dessen bewußt zu sein, sah er sie unverwandt an.
    »Guten Abend, Mr. Monk«, sagte sie zögernd; es fiel ihr offenbar nicht leicht, denn sie blinzelte verlegen.
    Monk stand auf. »Guten Abend, Ma’am.« Er hatte keine Ahnung, wie sie hieß, und war mittlerweile wirklich zu Tode erschrocken. Wäre er bloß nie hergekommen! Was sollte er zu ihr sagen? Wie gut kannte sie ihn? Er spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren drang; sein Mund war trocken, seine Gedanken waren ein einziges, alles vernichtendes, stummes Chaos.
    »Sie haben so lang nichts mehr von sich hören lassen«, fuhr sie fort. »Ich hatte schon Angst, Sie hätten etwas entdeckt, das Sie mir nicht sagen wollen.«
    Entdeckt! Hatte sie mit irgendeinem Fall zu tun? Monk suchte krampfhaft nach einer Erwiderung, die halbwegs vernünftig klang, ohne daß er sich kompromittieren mußte.
    »Tut mir leid, ich fürchte, ich habe nichts Neues herausgefunden.« Seine Stimme hallte schrecklich künstlich in seinen Ohren wider. Er betete zu Gott, daß er sich nicht wie ein Vollidiot anhörte.
    »Ach so.« Sie senkte den Blick. Für einen Moment sah es so aus, als wüßte sie nicht, was sie noch sagen sollte, dann hob sie den Kopf wieder und schaute ihn direkt an. Monk konnte an nichts anderes denken als an ihre Augen; wie dunkel sie waren – braun, nein, eher ein ganzes Meer unterschiedlicher Farbschattierungen. »Sie dürfen mir die Wahrheit sagen, Mr. Monk, was immer es ist. Auch wenn er sich selbst getötet hat, möchte

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