Das Gesicht des Fremden
mit breitem Grinsen und leuchtenden Augen voll ins Gesicht.
»Dann sollten Sie Ihre Ermittlungen wohl allmählich auf Greys Familie und Freundeskreis ausweiten, finden Sie nicht?« sagte er mit offenkundiger Befriedigung. »Vor allem auf seine Frauenbekanntschaften. Vielleicht gibt’s irgendwo einen eifersüchtigen Ehemann – das Ganze sieht mir nämlich genau nach der Sorte von Haß aus. Glauben Sie mir, dieser Fall stinkt fürchterlich zum Himmel!« Er gab dem Hut auf seinem Kopf einen leichten Schubs, was jedoch nur schief und kein bißchen verwegen aussah. »Und Sie, Monk, sind genau der Richtige, um es ans Tageslicht zu bringen. Fahren Sie nach Shelburne, und versuchen Sie noch mal Ihr Glück!«
Mit diesem abschließenden Hieb warf er sich innerlich frohlockend seinen Schal um den Hals und stolzierte hinaus.
Monk fuhr weder am nächsten noch an einem anderen Tag der Woche nach Shelburne. Er wußte, daß er nicht daran vorbeikommen würde, doch wenn es soweit war, wollte er so gut wie möglich gewappnet sein. Zum einen erhöhte es die Erfolgsaussichten, Joscelin Greys Mörder zu finden, zum andern – und das war ihm mittlerweile fast ebenso wichtig – half es ihm vielleicht, die Privatsphäre der Shelburnes sowenig wie möglich zu verletzen. Monk wußte zwar, daß die Mächtigen und Einflußreichen nicht weniger verwundbar waren als der Rest der Menschheit, für gewöhnlich setzten sie aber weitaus härtere Mittel ein, um die entsprechenden Schwachpunkte vor dem Gespött des Mobs in Sicherheit zu bringen. Das sagte ihm weniger seine Erfahrung als sein Instinkt – genau wie er ihm half, sich zu rasieren oder die Krawatte zu binden.
Statt dessen machte er sich am folgenden Morgen mit Evan auf den Weg zum Mecklenburg Square, diesmal nicht, um nach Spuren eines Eindringlings zu suchen, sondern um soviel wie möglich über Grey herauszufinden. Obwohl keiner von ihnen unterwegs besonders gesprächig war und jeder seinen Gedanken nachhing, war Monk froh, nicht allein zu sein. Greys Wohnung bedrückte ihn; es gelang ihm nicht, sich von den grausamen Geschehnissen freizumachen, die sich dort ereignet hatten. Es waren nicht das Blut und der Mord, was ihm zu schaffen machte, sondern dieser unbeschreibliche Haß. Er mußte dem Tod schon dutzend-, wenn nicht hundertmal begegnet sein, und er konnte ihn unmöglich jedesmal derart entsetzt haben. Wahrscheinlich hatte es sich meist um normalen gewaltsamen Tod gehandelt, um selbstsüchtigen und hirnlosen Mord, ausgeführt von einem habgierigen Straßenräuber, der sich holt, was er begehrt, oder einem Dieb, dessen Fluchtweg blockiert ist. Greys Tod indes besaß eine völlig andere Komponente, hatte etwas ausgesprochen Intimes. Täter und Opfer waren durch ein untrennbares Band tiefer Emotionalität miteinander verbunden.
Obwohl es im restlichen Haus warm war, begann Monk in Greys Wohnzimmer zu frösteln. Das durch die Fenster sickernde Tageslicht war farblos; statt Helligkeit zu verbreiten, schien es sie zu absorbieren. Die schweren Möbel machten plötzlich einen trostlosen und schäbigen Eindruck, wirkten für den Raum viel zu groß, obschon sich nicht das geringste verändert hatte. Monk schaute Evan an, um festzustellen, ob er ähnlich empfand, doch der schien lediglich nicht ganz glücklich darüber zu sein, daß er in den Briefen fremder Leute herumschnüffeln sollte; mit angewidertem Gesicht klappte er den Sekretär auf und begann die Schubladen zu durchsuchen.
Monk ging an ihm vorbei ins Schlafzimmer, wo es ein wenig muffig roch. Die Möbel waren, wie schon bei seinem ersten Besuch, mit einer dünnen Staubschicht bedeckt. Er warf einen Blick in den Kleiderschrank, in die Wäscheschubladen, die Frisierkommode; Greys Garderobe war exzellent – nicht allzu umfangreich, aber ausgezeichnet gearbeitet und von hervorragender Qualität. Er mußte in der Tat einen erstklassigen Geschmack gehabt haben, wenn ihn sein Geldbeutel vermutlich auch daran gehindert hatte, diesen in vollen Zügen auszuleben. Monk entdeckte mehrere Paar goldene Manschettenknöpfe, eins davon mit eingraviertem Familienwappen, zwei mit seinen Initialen. Außerdem stieß er auf drei Krawattennadeln, eine war mit einer Perle von ansehnlicher Größe bestückt, sowie eine silberne Toilettengarnitur nebst einem schweinsledernen Kulturbeutel. Kein Einbrecher konnte bis hierher vorgedrungen sein! Es gab jede Menge hübsche Brusttaschentücher mit eingesticktem Monogramm, Hemden aus Seide oder Leinen,
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