Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Krawatten, Socken, saubere Unterwäsche. Monk stellte überrascht und leicht beunruhigt fest, daß er den Preis jedes einzelnen Artikels bis auf wenige Schilling genau benennen konnte, und fragte sich unwillkürlich, welchen Ambitionen er dieses Wissen zu verdanken hatte.
    Er hatte gehofft, in den Schubladen Briefe zu finden, die zu persönlich waren, um zwischen Rechnungen und anderer Korrespondenz im Schreibtisch aufbewahrt zu werden, wurde allerdings enttäuscht und kehrte schließlich ins Wohnzimmer zurück. Evan stand reglos vor dem Sekretär. Es war mucksmäuschenstill im Raum, als hätten beide das Gefühl, ungebeten in das Reich eines Toten eingedrungen zu sein.
    Von der Straße scholl das Gerumpel von Rädern, der härtere Klang von Hufschlägen und der Schrei eines Straßenhändlers herauf, der wie »Olle Wolle – olle Wolle!« klang.
    »Und?« fragte Monk unbewußt im Flüsterton.
    Evan blickte erschrocken auf; sein Gesicht war angespannt.
    »Ein ganzer Haufen Briefe, Sir, aber ich weiß nicht, ob sie uns was nützen. Mehrere von seiner Schwägerin Rosamond Grey und ein ziemlich unfreundlicher von seinem Bruder Lovel – das ist doch Lord Shelburne, oder? Seine Mutter hat ihm vor gar nicht langer Zeit geschrieben, aber es ist nur ein Brief von ihr da, die andern hat er offenbar nicht aufgehoben. Dann gibt’s noch ein paar von einer Familie Dawlish, alle erst kurz vor seinem Tod abgeschickt, unter anderem die Einladung, sie für eine Woche zu besuchen. Haben anscheinend auf freundschaftlichem Fuß mit ihm gestanden.« Er schürzte leicht die Lippen. »Einer stammt von Miss Amanda Dawlish höchstpersönlich und klingt reichlich ungeduldig. Es gibt eine ganze Reihe Einladungen, die sich auf Termine nach seinem Tod beziehen. Die älteren hat er weggeworfen, wie’s aussieht. Einen Terminkalender habe ich leider nicht gefunden. Komisch eigentlich.« Er hob den Kopf. »Man sollte wirklich denken, jemand wie er hätte einen Kalender für all die gesellschaftlichen Anlässe, meinen Sie nicht?«
    »Und ob ich das meine!« Monk trat einen Schritt vor.
    »Vielleicht hat ihn der Mörder eingesteckt. Sind Sie sicher, daß keiner da ist?«
    »Im Sekretär jedenfalls nicht.« Evan schüttelte den Kopf.
    »Und nach Geheimfächern hab ich bereits geschaut. Allerdings wüßte ich keinen Grund, warum man so einen Kalender verstecken soll, Sie vielleicht?«
    »Keine Ahnung«, erwiderte Monk wahrheitsgetreu, trat näher an den Schreibtisch heran und spähte hinein. »Es sei denn, der Mörder hat ihn tatsächlich mitgenommen, zum Beispiel weil sein Name zu oft vorkommt. Diesen Dawlishs werden wir auf jeden Fall einen Besuch abstatten müssen. Steht auf den Briefen ein Absender?«
    »Hm, hab ihn schon aufgeschrieben.«
    »Prima. Was sonst noch?«
    »Mehrere Rechnungen. Er hat nicht immer sofort bezahlt, was ich aber schon von den Ladenbesitzern wußte. Drei sind von seinem Schneider, vier oder fünf von einem Hemdenmacher – der, bei dem ich war, zwei von dem Weinhändler, und dann gibt’s noch einen recht knappen Brief vom Familienanwalt, der die Antwort auf Greys Forderung nach einem höheren Zuschuß enthält.«
    »Abschlägiger Natur, nehme ich an?«
    »Eindeutig.«
    »Nichts vom Klub – bezüglich Spielschulden oder so?«
    »Nein, aber für gewöhnlich verewigt man seine Spielschulden nicht auf Papier – nicht mal im Boodles –, es sei denn, man selbst ist derjenige, der sie eintreiben muß.« Er grinste plötzlich.
    »Nicht, daß ich mich da auskenne – außer vom Hörensagen.« Monk entspannte sich ein wenig. »Wie wahr! Keine weiteren Briefe?«
    »Ein ausgesprochen frostiger von einem Charles Latterly noch, in dem nicht viel –«
    »Latterly?« Monk erstarrte.
    »Ja. Kennen Sie den Mann?« Evan sah ihn neugierig an.
    Monk atmete tief durch und riß sich mühsam zusammen. Mrs. Latterly hatte in St. Marylebone einen »Charles« erwähnt, und er hatte befürchtet, es handle sich dabei um ihren Ehemann.
    »Ich habe vor einiger Zeit an einem Fall Latterly gearbeitet«, gab er zurück, wobei er versuchte, seine Stimme möglichst gleichmütig klingen zu lassen. »Ist wahrscheinlich purer Zufall. Gestern suchte ich die Akte noch, konnte sie aber nicht finden.«
    »Könnte er irgendwas mit Grey zu tun gehabt haben? Einen Skandal zu vertuschen oder –«
    »Nein!« Das klang härter als beabsichtigt und verriet seinen inneren Aufruhr. Monk mäßigte den Ton. »Ausgeschlossen. Der arme Kerl ist ohnehin tot. Starb noch vor

Weitere Kostenlose Bücher