Das Gesicht des Fremden
Grey.«
»Oh.« Evan widmete sich wieder dem Schreibtisch. »Ich fürchte, das war’s. Immerhin dürfte es uns jetzt gelingen, eine Menge Leute aufzutreiben, die ihn gekannt haben, was uns eventuell neue Anhaltspunkte liefert.«
»Ja, richtig. Trotzdem schreibe ich mir Latterlys Adresse sicherheitshalber auf.«
»Natürlich – hier ist sie.« Evan fischte einen der Briefe heraus und reichte ihn weiter.
Monk las ihn durch. Er klang frostig, wie Evan gesagt hatte, aber nicht unfreundlich. Nichts wies auf offenkundige Abneigung hin, man gewann lediglich den Eindruck, daß kein Wunsch nach einer Vertiefung der Beziehungen bestand. Nach dreimaligem Lesen, wobei ihm nichts Ungewöhnliches auffiel, schrieb Monk die Adresse auf einen Zettel und gab den Brief an Evan zurück.
Sie beendeten die Durchsuchung und verließen die Wohnung. Als sie unten in der Halle an Grimwade vorbeikamen, vergaßen sie nicht, ihm zum Abschied kurz zuzunicken.
»Gehen wir essen«, sagte Monk knapp. Er wollte unter Menschen, wollte sie lachen und reden hören, Menschen, die nichts über Mord, Gewalt und schmutzige Geheimnisse wußten, die vollauf mit den banalen Freuden und Ärgernissen des Alltags beschäftigt waren.
»Gute Idee.« Evan fiel in seinen Schritt ein. »Etwa einen Kilometer von hier gibt’s ein recht ordentliches Wirtshaus, da bekommt man die besten Klöße weit und breit. Das heißt« – er hielt abrupt inne –, »es ist nichts Besonderes, vielleicht möchten Sie lieber…«
»Hervorragend«, sagte Monk. »Genau das, was wir jetzt brauchen. Ich bin halb erfroren nach unsrem Aufenthalt hier. Komisch eigentlich, denn man ist schließlich im Haus.«
Evan zog die Schultern hoch und grinste ein wenig einfältig.
»Vielleicht ist’s ja bloß Einbildung – aber ich kriege immer einen richtigen Schüttelfrost. Ich hab mich einfach noch nicht an Mord und Totschlag gewöhnt. Sie stehen vermutlich über solchen Gefühlsanwandlungen, aber ich bin noch nicht so weit, daß –«
»Tun Sie’s nicht!« entfuhr es Monk heftiger als gewollt.
»Gewöhnen Sie sich niemals dran!« Es war ihm egal, daß er seine eigene Verletzbarkeit, seine plötzliche Sensibilität preisgab. »Ich meine, Sie sollten unbedingt einen klaren Kopf behalten«, fuhr er in ruhigerem Ton fort, da seine Vehemenz Evan etwas aus der Fassung gebracht hatte, »aber versuchen Sie auf keinen Fall, das Entsetzen um jeden Preis abzuschalten. Seien Sie kein Kriminalbeamter, bevor Sie ein Mann sind!« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, bedauerte er sie; sie mußten ziemlich salbungsvoll und abgedroschen geklungen haben.
Evan schien das jedoch nicht zu bemerken.
»Ich hab sowieso noch einen langen Weg vor mir, bis ich dazu in der Lage bin, Sir. Offengestanden wird mir in diesem Zimmer sogar immer ein bißchen schlecht. Es ist der erste Mord dieser Art, mit dem ich zu tun habe.« Er hörte sich befangen und unglaublich jung an. »Sicher, ich hab schon eine Menge Leichen gesehen, aber das waren normalerweise die Opfer von Unfällen oder Landstreicher, die auf offener Straße verreckt sind – im Winter passiert das oft. Und deshalb bin ich auch so froh, daß ich mit Ihnen zusammenarbeiten darf. Es gibt niemand, von dem ich mehr lernen könnte.«
Monk spürte, daß er vor Freude rot wurde, doch zugleich war es ihm peinlich, denn dieses Lob hatte er im Grunde nicht verdient. Er stapfte verlegen durch den stärker werdenden Regen, während er vergebens versuchte, sich eine passende Erwiderung einfallen zu lassen. Evan lief stumm neben ihm her; er brauchte offenbar keine Antwort.
Am nächsten Montag stiegen Monk und Evan in Shelburne aus dem Zug und machten sich auf den Weg nach Shelburne Hall. Es war einer dieser Sommertage, an denen der Himmel tiefblau und wolkenlos war und einem von Osten her eine frische Brise ins Gesicht schlug, als bekäme man leichte Ohrfeigen. Die im Wind flüsternden Bäume schmiegten sich in dichten, grünen Wogen in die Talsenken. In der vergangenen Nacht hatte es geregnet, und bei jedem Schritt stieg ihnen der angenehme Duft feuchter Erde in die Nase.
Sie gingen schweigend nebeneinander her. Jeder genoß den Spaziergang auf seine Weise. Monk war sich – abgesehen vom Vergnügen beim Betrachten des endlosen Himmels und der weiten Felder keines konkreten Gedankens bewußt, als er plötzlich erneut von einer lebhaften Erinnerung an Northumberland überfallen wurde. Vor seinem geistigen Auge tauchte eine ausgedehnte, kahle Hügellandschaft
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