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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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früher Abend, als sie schließlich durch den heißen, blaugoldenen Sommertag an den Feldern vorbei nach Shelburne Hall zurückfuhren. Die Rücken der Schnitter beugten sich immer noch über das Korn. Hester genoß den leichten Fahrtwind und empfand es als wahres Vergnügen, unter den dichten, schattenspendenden Bäumen hindurchzugleiten, die sich von beiden Seiten der schmalen Straße entgegenlehnten. Außer dem Getrappel der Hufe, dem gedämpften Zischen der Räder und einer gelegentlichen Vogelstimme war es vollkommen still. Wo die Landarbeiter bereits gewesen waren, schimmerten die hellen Getreidehalme blaß im Sonnenlicht, an anderen Stellen häuften sich die dunkleren, noch nicht eingesammelten Ähren. Oben am Himmel trieben ein paar wenige zarte Wölkchen, fein wie gesponnene Seide, in Richtung Horizont.
    Hester betrachtete die Hände, die die Zügel hielten, und Rosamonds ruhiges, konzentriertes Gesicht. Sie überlegte, ob Lovels Frau wohl die zeitlose Schönheit des Ganzen sah, oder ob sie es nur als unendlich eintönig empfand. Aber das war eine Frage, die selbst sie nicht stellen konnte.
    Den Abend verbrachte Hester in Callandras Gemächern, das Dinner im Familienkreis ließ sie ausfallen. Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück im Eßzimmer erschien, empfing Rosamond sie mit offenkundiger Freude.
    »Würden Sie gern meinen Sohn sehen?« fragte sie mit rotem Kopf, anscheinend über ihre Dreistigkeit und ihre Sensibilität gleichermaßen überrascht.
    »Ja, und ob!« antwortete Hester wie aus der Pistole geschossen; was hätte sie auch anderes sagen sollen. »Ich kann mir gar nichts Netteres vorstellen.« Das entsprach sogar der Wahrheit. »Es wäre eine wundervolle Art, den Tag zu beginnen«, fügte sie rasch hinzu.
    Das Kinderzimmer war ein heller, nach Süden gelegener Raum voller Sonnenlicht und Chintz. Neben dem Fenster stand ein niedriger Stillschemel, neben dem gut verbarrikadierten und gesicherten Kamin ein Schaukelstuhl und daneben wiederum, da das Kind noch sehr klein war, eine Kinderkrippe. Das Kindermädchen, ein junges Ding mit nettem Gesicht und einer Haut wie Milch und Honig, war gerade damit beschäftigt, das etwa anderthalbjährige Kind zu füttern. Es stocherte begeistert mit seinen verschmierten Fingerchen in einem weichgekochten Ei herum. Hester und Rosamond hielten sich im Hintergrund und schauten zu.
    Das Baby, dessen blonde Haarkrone wie der Kamm eines kleinen Vogels aussah, hatte augenscheinlich einen Riesenspaß. Gehorsam ließ es sich einen Löffel nach dem anderen in den Mund schieben, während seine Backen dicker und dicker wurden. Dann holte es mit glänzenden Augen tief Luft und spuckte alles wieder aus. Daraufhin mußte der Kleine so lachen, daß sein Gesicht ganz rot wurde und er schließlich hilflos vor Entzücken auf seinem Stühlchen zur Seite kippte.
    Rosamond war der Vorfall peinlich, doch Hester stimmte in das Gelächter des Babys ein, während das Mädchen mit einem feuchten Tuch an ihrer ehemals fleckenlosen Schürze herumtupfte.
    »Master Harry, das tut man aber nicht!« sagte sie so streng, wie es ihr zustand, aber in ihrem Ton schwang kein Ärger mit. Sie schien auf sich selbst wütend zu sein, weil sie sich wieder mal hatte überlisten lassen.
    »Ach, du schreckliches Kind!« Rosamond ging zu ihm, nahm ihn auf den Arm und preßte das blasse Köpfchen an ihre Wange. Er krähte vor Vergnügen und schaute Hester mit völligem Gottvertrauen, daß sie voll und ganz auf seiner Seite stand, über die Schulter seiner Mutter hinweg an.
    Sie verbrachten eine unbeschwerte Stunde mit fröhlichem Geplauder, dann ließen sie das Kindermädchen allein, damit es wieder seine Arbeit tun konnte. Rosamond zeigte Hester das Spielzimmer, in dem sich Lovel, Menard und Joscelin als Kinder die Zeit vertrieben hatten. Es gab ein Schaukelpferd, Spielzeugsoldaten, Holzschwerter, Spieldosen, ein Kaleidoskop und Puppenhäuser, die aus einer früheren Generation von Töchtern stammen mußten – aus Callandras Ära vielleicht?
    Anschließend begaben sie sich in das Schulzimmer, das voller Tische und Bücherregale stand. Hesters Hand glitt zunächst eher beiläufig über die alten Übungshefte, die die ersten linkischen Schreibversuche eines Kindes enthielten. Als sie dann aber zu den Aufsätzen aus dem Heranwachsendenalter vorgedrungen war, begannen sie die in reiferer Schrift verfaßten Sätze zu fesseln. Der Stil war locker und flüssig und von einer scharfen Beobachtungsgabe und einem

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