Das Gesicht des Fremden
woraufhin diese die Situation richtigerweise als heikel einschätzte und nicht weiter nachfragte.
Nach dem Essen zog sie sich zurück, um das zu tun, was sie für ihre Pflicht hielt. Sie mußte sich bei Fabia für ihr freches Benehmen General Wadham gegenüber entschuldigen. Er hatte es zwar verdient, aber sie war Fabias Gast und hätte sie nicht in Verlegenheit bringen dürfen, ganz gleich, wie groß die Provokation war.
Sie brachte es am besten sofort hinter sich; je länger sie darüber nachdachte, desto schwerer würde es werden. Hester hatte für kleine Wehwehchen wenig Verständnis. Sie hatte zu viele schwere Krankheiten gesehen und war selbst kerngesund, so daß sie nie am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, wie sehr auch kleine Wehwehchen an den Kräften zehren konnten, wenn sie sich über einen längeren Zeitraum hinzogen.
Sie klopfte an Fabias Tür, wartete die Aufforderung zum Eintreten ab und ging hinein.
Der Raum wirkte weniger weiblich, als sie erwartet hatte. Er war in schlichtem, hellem Wedgwoodblau gehalten und spärlich möbliert. Auf einem Tischchen beim Fenster stand eine einzige silberne Vase mit voll aufgeblühten Rosen. Das Bett hatte einen Baldachin aus dem gleichen weißen Musselin, aus dem auch die Innenseite der Vorhänge bestand. An der Stirnwand hing das ausgezeichnet gemalte Porträt eines jungen Mannes in der Uniform eines Kavallerieoffiziers. Er war schlank und hielt sich sehr gerade; das blonde Haar fiel ihm locker in die breite Stirn, die Augen waren hell und intelligent, der Mund machte einen beweglichen, humorvollen und wortgewandten Eindruck, wenn er Hester auch auf eine gewisse Labilität hinzudeuten schien.
Fabia saß aufrecht im Bett. Ein blaues Satinbettjäckchen bedeckte ihre Schultern, das gebürstete und gelöste Haar fiel ihr in konischen Spiralen über die Brust. Sie sah schmächtig und wesentlich älter aus, als Hester sich je hätte träumen lassen. Die Entschuldigung war plötzlich kein Problem mehr. In dem blassen Gesicht spiegelte sich die jahrelange Einsamkeit, der schlimme Verlust, der nie wiedergutzumachen war.
»Ja, bitte?« fragte Fabia hörbar abweisend.
»Ich komme, um mich zu entschuldigen. Ich war gestern sehr unfreundlich zu General Wadham, was mir als Gast in Ihrem Haus auf keinen Fall hätte passieren dürfen. Es tut mir aufrichtig leid.«
Fabia hob verblüfft die Brauen, dann lächelte sie kaum merklich.
»Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Es überrascht mich, daß Sie soviel Anstand besitzen, zu mir zu kommen. Ich hätte es Ihnen offengestanden nicht zugetraut – und ich irre mich nur selten in einer jungen Frau.« Das Lächeln vertiefte sich, wodurch ihr Gesicht plötzlich viel lebendiger aussah; man konnte ein wenig von dem Mädchen darin entdecken, das sie einmal gewesen sein mußte. »Es war mir ausgesprochen peinlich, General Wadham dermaßen… kleingemacht zu sehen, aber es entbehrte auch nicht einer gewissen Genugtuung. Er ist ein überheblicher, alter Trottel, und ich bin es manchmal leid, so gönnerhaft behandelt zu werden.«
Hester verschlug es die Sprache. Zum erstenmal seit ihrer Ankunft in Shelburne Hall war Fabia ihr sympathisch.
»Sie dürfen sich setzen«, meinte Fabia, wobei es in ihren Augen humorvoll aufblitzte.
»Danke.« Hester ließ sich auf dem mit blauem Samt bespannten Ankleideschemel nieder und betrachtete die übrigen, weniger guten Gemälde sowie die wenigen Fotografien. Die darauf abgelichteten Personen wirkten allesamt gezwungen und fürchterlich steif, was vermutlich auf das endlose Posieren vor der Kamera zurückzuführen war. Eins der Bilder zeigte Rosamond und Lovel, allem Anschein nach bei der Hochzeit. Sie machte einen zerbrechlichen und überglücklichen Eindruck – er blickte voll Optimismus direkt in die Linse.
Auf der Kommode stand eine frühe Daguerreotypie, auf der ein Mann mittleren Alters mit stattlichen Koteletten, schwarzem Haar und eitlem, launischem Gesichtsausdruck zu sehen war. Aufgrund der Ähnlichkeit mit Joscelin nahm Hester an, daß es sich um den verstorbenen Lord Shelburne handelte. Dann gab es noch eine recht kitschige Federzeichnung von den drei Brüdern als Jungen; die Gesichtszüge waren etwas idealisiert dargestellt.
»Ich bedaure, daß es Ihnen nicht gutgeht«, sagte sie schließlich. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?«
»Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Schließlich bin ich kein Kriegsopfer – zumindest nicht in dem herkömmlichen Sinn.«
Hester hatte
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